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Besuch in der Kita St. Nikolaus

Besuch in der Kita St. Nikolaus

Am Freitag, den 3.11.2017, waren wir in der Kita St. Nikolaus in Münster zu Besuch. Die Leiterin Monika Rolfes war sehr interessiert an unserem Projekt und bot uns die Möglichkeit, einen Vormittag lang mit den Kindern spielerisch ein paar sensorische Übungen durchzuführen. 

Vorab mussten wir selbstverständlich erst die Eltern in einem Anschreiben über unser Projekt informieren und ihr Einverständnis einholen. Der Termin sollte in den Schul-Herbstferien liegen, weil an allen anderen Tagen bereits spezielles Programm für die Kinder geplant war. In den Ferien kommen erfahrungsgemäß nur wenige Kinder in die Kita und die Tage sind nicht so stark durchstrukturiert. Angesprochen wurden die Eltern der 4- und 5-jährigen Kinder. Folgende Übungen hatten wir in dem Elternbrief kurz skizziert:

1. Übung: Was ist schmecken, was ist riechen? 

Die Kinder halten sich die Nase zu und versuchen, beim Trinken mit zugehaltener Nase den Unterschied zwischen Apfelsaft und Orangensaft zu schmecken. Gar nicht so einfach, sogar unmöglich, bis man die Nase wieder aufmacht und die fruchtigen Aromen, die die Kinder vermutlich gut kennen, von hinten in die Nasenhöhle strömen und neben den Geschmackseindrücken „süß“ und „sauer“ klar Orange und Apfel unterscheidbar machen. Schmecken ist zu einem großen Teil Riechen aus dem Mundraum in die Nasenhöhle, so genanntes retronasales Riechen!

 

2. Übung: Ist Schokolade süß oder bitter? 

Klar, wie Schokolade schmeckt, weiß jedes Kind. Wirklich? Wir geben den Kindern jeweils ein kleines Stückchen Vollmilch- und Zartbitterschokolade mit der Aufgabe, es so lange im Mund zu behalten wie möglich, idealerweise 120 Sekunden. Was schmeckt man, wenn man genau hinschmeckt? Ganz schön viele unterschiedliche Eindrücke! Und wie werden die Kinder das wohl in Worte fassen?

 

3. Übung: Wie fühlt sich das an? Wasser mit und ohne Prickeln. 

Wasser schmeckt nach gar nichts, oder? Wir lassen die Kinder Wasser mit und ohne Kohlensäure gegeneinander probieren. Was ist der Unterschied? Ist das Geschmack oder nur ein Gefühl auf der Zunge? Ob wohl ein Kind merkt, dass Wasser mit Kohlensäure nicht nur prickelt, sondern auch wirklich saurer schmeckt als eins ohne?

 

Insgesamt kamen 14 Kinder in 3 Gruppen zusammen, die von der Erzieherin Marina Pinto Americo in einen separaten Raum außerhalb der eigentlichen Gruppenräume begleitet wurden, Der Raum liegt direkt neben einer kleinen Küche, in der die Kinder zusammen mit den Erziehrinnen gelegentlich auch einfache Speisen selbst zubereiten, Plätzchen backen etc. – die „Genießer-Ecke“. Perfekt!

 Wir bereiteten den Raum vor: 

ein großer gemeinsamer Tisch für die Kinder, die Erzieherin und uns zwei Food-Laboranten. 


Dann kommen auch schon die Kinder rein.

 

1. Gruppe, 6 Kinder

 

Wir starten mit dem Wasser. Jedes Kind bekommt 2 kleine rote Plastiktassen, eine mit stillem Leitungswasser und eine mit demselben Wasser, das wir im Sodastreamer aufgesprudelt haben. Der Unterschied wird schnell entdeckt und benannt: Eine Tasse sprudelt, die andere nicht. Wir fragen, ob das Sprudelwasser auch nach etwas schmeckt. Die Antwort kommt prompt: nach Sprudel. Fall erledigt, weiteres Nachfragen zwecklos.

 

Dann wurde es schwieriger: Wieder 2 Tassen, diesmal eine mit Orangensaft, eine mit Apfelsaft. Wir bitten die Kinder, sich beim Trinken die Nase zuzuhalten und machen vor, wie es geht. Das scheint schwierig zu sein. Manche Kinder haben motorische Probleme, sich die Nase wirklich fest zuzuhalten und dabei zu trinken. Andere mogeln: riechen schon vor dem Trinken an der Tasse und halten sich erst dann die Nase zu oder machen die Nase zu früh wieder auf. Einer sagt: Das ist Apfelschorle. Die anderen stimmen zu. Wir fragen nach der zweiten Tasse. Einer sagt: Orangensaft, die anderen nicken.

 

Letzte Übung: Schokolade 2 Minuten lang im Mund lassen.

Zuerst bittere Schokolade mit einem Hauch Mango drin. Alle greifen gerne zu und lutschen still vor sich hin. Auf dem Handy läuft der Timer rückwärts. Einer kaut sein Stückchen sofort auf und glaubt, wir haben es nicht gemerkt. Nach 2 Minuten sagt der erste: bittere Schokolade. Wir fragen, ob er noch etwas anderes geschmeckt hat als bitter. Er sagt: Erdbeere! Die anderen sagen nichts außer: schmeckt nach Schokolade. Dann die zweite Sorte, wieder 2 Minuten, diesmal gibts Vollmilchschokolade. Die Kinder beschreiben die Unterschiede: süßer und vor allem schneller geschmolzen als die erste Schokolade. Welche hat besser geschmeckt? Etwa die Hälfte mag lieber bitter, die andere Hälfte Vollmilch. Es hat allen Spaß gemacht, wir freuen uns auf die nächste Gruppe und machen eine kurze Manöverkritik in der Pause. 


Das muss alles einfacher werden!

 

2. Gruppe, 4 Kinder

 

Es gibt nur eine Tasse mit Wasser, alle merken, dass es sprudelt. Wir üben mit der Wassertasse zusammen, mit zugehaltener Nase zu trinken. Als dann die Säfte in der Tasse sind, klappt es etwas besser als bei der ersten Gruppe. Das Ergebnis ist aber ähnlich. Den Unterschied zwischen Nase zu und Nase auf kann kein Kind bemerken oder benennen. „Apfelschorle“ für Apfelsaft wird als Geschmack eher identifiziert als der Orangensaft. Einer spricht es aus, die anderen stimmen zu.

 

Beim Schokoladenexperiment ein ähnliches Ergebnis wie in der ersten Gruppe: Der Geschmack der Bitterschokolade wird mal mit „bitter“ beschrieben, mal mit „nur Schokolade“, der Geschmack der Vollmilchschokolade mit „Schokolade“ und „Milch“. Präferenzen ungefähr gleich verteilt.

 

3. Gruppe, 4 Kinder

 

Wir vereinfachen weiter. Wasser dient als Übungsgetränk fürs Nasezuhalten. Bei den Säften kriegt jedes Kind nur eine Tasse, zwei haben Apfelsaft, zwei Orangensaft. Nasezuhalten klappt nicht perfekt, der Unterschied wird doch teilweise deutlich. Einer behauptet mit geschlossener Nase, der Orangensaft sei Wasser. Die Kinder merken, dass es mit geschlossener Nase schwieriger ist, zu schmecken. Deshalb machen sie sie auch schnell wieder auf. Was die Kinder nicht ahnen, ist, dass nicht alle denselben Saft in der Tasse haben. Das erste Apfelkind sagt bestimmt: „Apfelschorle“, das zweite stimmt zu. Die beiden Orangenkinder sagen gar nichts und lassen sich auch durch Nachfragen nicht zu einem Statement ermuntern. Offenbar haben sie gemerkt, dass sie keinen Apfelsaft in der Tasse haben. Sie wollen aber auch dem ersten Kind nicht widersprechen.

 

Beim Schokoladentest können wieder zwei der Kinder sicher „Bitterschokolade“ und „Vollmilch“ als Geschmacksrichtungen benennen. Die Präferenzen sind auch wieder gleich verteilt.

 

Beobachtungen

 

Die Kinder haben gut mitgespielt und hatten viel Spaß an der Aktion. Im Außenbereich der Kita sprechen unsere Kinder mit denen, die nicht teilnehmen konnten, über ihr Erlebnis und berichten begeistert. Wir sind auch positiv überrascht, wie gut die Kinder mitgemacht haben und wie groß in allen Gruppen das Interesse an den Übungen war.


  Was bei den Kindern davon übrig bleibt? Wir wissen es nicht. Vielleicht die Erkenntnis, dass es sich lohnen kann, sich für ein Stück Schokolade die Zeit zu nehmen, die die jeweilige Schokolade braucht.

 

In der Nachbesprechung sind wir vor allem überwältigt von dem Eindruck, wie stark die Dominanz der Gruppe über den individuellen Geschmack war. Die Gruppendynamik am Tisch war stets der bestimmende Faktor. In der Gesamtheit der 4- und 5-jährigen Kinder waren die individuellen Fähigkeiten, Geschmäcker zu erkennen und zu benennen, erwartungsgemäß sehr unterschiedlich verteilt. Die individuelle Entwicklung der Kinder und ihrer sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten spielt eine große Rolle. Nicht nur die Gruppe dominiert den einzelnen, es lässt sich auch eine klare Bezeichnungsdominanz feststellen. Wenn der Geschmackseindruck „mit Sprudel“ oder „Apfelschorle“ einmal feststeht, wird er nicht weiter hinterfragt, revidiert oder ergänzt. Die individuell unterschiedlich stark ausgeprägten begrifflichen Kategorien strukturieren die sensorische Wahrnehmung sehr stark. An einem Detail lässt sich das sehr gut ablesen: Apfelsaftgeschmack kennen die Kinder vor allem aus der Mischung als Apfelschorle, weil purer Saft für Kinder bei Eltern verpönt ist. Karies und Übergewicht drohen! Im Gegensatz zu Erwachsenen differenzieren die Kinder nicht zwischen Apfelsaft und Apfelschorle. Auch ohne Wasserzugabe wird Apfelgeschmack im Getränk als Apfelschorle bezeichnet. Interessanterweise hat kein Kind gesagt, dass der Apfelsaft nach Apfel schmeckt. Der Saft schmeckt nach Apfelschorle! Der Begriff ist eine starre Kategorie, eine gedankliche Schublade. Schublade auf, Geschmackseindruck rein, Schublade zu. 


Bleibt das im Erwachsenenalter eigentlich so?

 

Die Kategorie Orangensaft/Orange war wesentlich weniger präsent. Offenbar spielt sie im Alltag der Kinder eine untergeordnete Rolle. Wer jemals mit kleinen Kindern im europäischen Ausland unterwegs war, konnte vermutlich auch den Eindruck bekommen, dass die Omnipräsenz der Apfelschorle ein singuläres, kulturspezifisch deutsches Phänomen ist. Wie dem auch sei; Gruppe, Sprache und Kultur sind offenbar Themengebiete, die wir stärker in Betracht ziehen müssen, wenn wir die Geschmackssensorik in ihrer ganzen Multidimensionalität erfassen wollen.

 

Die Erzieherin Marina Pinto Americo, die bei allen drei Gruppensessions anwesend war, half uns, das eben Erlebte einzuordnen. Die Kinder haben offenbar normal agiert und dasselbe gruppendynamische Verhalten gezeigt wie bei gemeinsamen Mittagessen in den Gruppen.

 

Wir sind jedenfalls sehr dankbar, dass wir viele Anregungen aus dem Vormittag in der Kita St. Nikolaus mitnehmen durften. Foto, Film- oder Tonaufnahmen haben wir bewusst nicht gemacht, um das Einverständnis der Eltern nicht zu gefährden und die Kinder so natürlich wie möglich agieren zu lassen.


 

In 80 Minuten um den Block: Eine Pionierfahrt zur Entschleunigung

In 80 Minuten um den Block: Eine Pionierfahrt zur Entschleunigung

Jan Fischer läuft in 80 Minuten um den eigenen Block. Sammelt neongrüne Plastiklöffel, zartrosa Blütenblätter und ein paar helle Momente im Nieselregen seiner Nahumgebung. Ein Ausflug in Zeitlupe.

Frage: Sieht so der Tourismus der Zukunft aus?

Datum: 5. November 2017, 11:40 Uhr

Ort: 52°22`30" N, 9°44`20" O, Wilhelm-Bluhm-Straße, Linden, Hannover

Reisebericht [in Auszügen]

11:40 Ich stehe vor meiner Haustür. Es regnet, und ich frage mich, ob ich nach rechts oder nach links gehen soll.

11:41 Gerade sind drei Mädchen in Regenkleidung und Fahrradhelmen an mir vorbeigelaufen. Ich laufe jetzt nach links los, das ist meine dominante Seite. Weil ich Linkshänder bin.

Ich habe vor unserer Haustür ein Graffiti entdeckt, das ich noch nie vorher gesehen habe. Es ist eine Art Auge. 

Gegenüber liegt eine Plastikverpackung eines „Rechteckdichtringes“. Der ist wohl für Thermen.

Eine Taube kommt auf mich zu, läuft hier so durch die Gegend, wackelt mit dem Kopf, versucht, Blätter aufzupicken. Sie kommt mir nicht näher.

Die Visitenkarte eines Gebrauchautohändlers klemmt an einem roten Suzuki Alto.

11:44 Ich schaue bei der KiTa um die Ecke ins Fenster. Da hängt eine Gitarre an der Wand, da hängen auch so Fotos von KiTafesten. Darüber spiegelt sich im Fenster das Stoppschild von gegenüber. Außerdem sieht man Bastelsachen. Im Fenster sind Federn. Vor dem Fenster liegt ein Kaugummi, rosa. Kurz überlegt, ob ich das mitnehme, mache ich aber nicht.

11:47 Ich stehe vor einem Hauseingang mit einem Klingelschild, einer der Namen ist so eigenartig angebracht, also nachträglich und handschriftlich, man weiß gar nicht, wo man klingeln soll, wenn man dort klingeln möchte. Direkt daneben steht ein Müllcontainer, der beklebt ist mit diversen Aufklebern gegen Kapitalismus und für Sneaker. Der Container ist voller noch in Plastik eingeschweißter Ausgaben dieser „Einkauf aktuell“- Gratiszeitung. 

[8 Minuten später.]  

11:55 Es ist recht viel passiert, eigentlich. Ein Jogger ist vorbeigelaufen, in kurzer Hose. Außerdem habe ich etwas aufgesammelt, ich bin mir nicht sicher, was es ist, Teil eines Buttons vielleicht, oder ein Aufkleber mit einem Bienenmuster. Und die Kirche hat angefangen zu dengeln, mir ist nicht ganz klar, warum. Es ist Sonntag, deshalb vermute ich mal, dass der Gottesdienst vorbei ist, ich habe die Glocken jedenfalls noch nie um diese Uhrzeit gehört.

Jetzt sind hier gerade ein Menge Tauben, die alle irgendwelche Dinge vom Boden aufpicken, die ich nicht erkennen kann. Ich weiß nicht, was sie aufpicken, aber es scheint spannend zu sein.

Von hier aus sehe ich einen Spielplatz, vor dem Spielplatz ist eine Freifläche, auf der ein großer Tisch steht. Auf der Fläche stehen, Setzlinge nennt man das wahrscheinlich nicht mehr, kleinere Bäume, die in Baumhalterungen stecken, lila bemalt. Sie sind bestrickt.

11:58 Ich bin ein wenig von meinem Weg abgewichen, weil ich hier einen „Ganzkörpertrainer“ entdeckt habe. Es ist ein Edelstahlgerät mit zwei, wie sagt man, Fächer, vielleicht. Dinger, jedenfalls, wo man die Füße reintut, es gibt zwei Stangen, die man mit den Händen zieht, und dann sieht es ein wenig so aus als würde man laufen, nur eben auf der Stelle. Das ganze entspricht der DIN-Norm 7900:2012-05 und ist von der Playfit GmbH produziert. Ich lese mir selbst aus der Bedienungsanleitung vor: „Der Ganzkörpertrainer trainiert die Koordination und Kondition. Durch dieses Ganzkörpertraining werden alle wichtigen Muskelgruppen beansprucht und gekräftigt.“ Ich mache das jetzt nicht, es ist nass, und ich habe Angst mich zu verletzen. 

Es stehen hier auch noch zwei andere Geräte, an denen man so drehen kann mit den Händen. Es gibt auch einen Mülleimer mit Bank, offensichtlich hat dort jemand ein hartgekochtes Ei gegessen, jedenfalls liegt hier Eierschale.  

[8 Minuten später.] 

12:06 Ich habe einen Tischkicker entdeckt, der hier draußen steht. Er ist auch wieder vollgeklebt. Hannover 96, Die Linke, Inner Engineering, da ist irgendeine Art von bärtigem Yogi drauf abgebildet.

12:08 Ich habe einen neongrünen Eislöffel auf der Straße entdeckt. Ich packe ihn ein.

12:09 Ich bin auf dem Spielplatz angekommen. Der Boden ist mit Mulch ausgelegt, es gibt diverse Holzgeräte. Architektonisch erinnern sie an „Das Kabinett des Dr. Caligari“.

12:12 Ich klettere ein bisschen auf den Spielgeräten rum, es ist alles recht nass und glitschig. Ich habe einen Hühnchenknochen gefunden und Zigarettenkippen. Das ist jetzt nicht ganz so wahnsinnig interessant, aber vielleicht in der Masse dann doch aussagekräftig.

12:14 Ich beobachte eine Mutter, die mit ihrem Kind über eine Art in den Boden eingelassenes Trampolin läuft. Das Kind ist an einer Leine festgebunden, die die Mutter hält.

Ich verlasse jetzt den Spielplatz durch einen anderen Eingang und bewege mich in Richtung des Bücherschrankes, der hier neben dem Spielplatz steht und versuche, mir den Mal aus der Nähe anzuschauen. 

Der Bücherschrank ist natürlich besonders interessant, weil er etwas darüber sagt, was die Leute hier lesen. „Dr. Schiwago“, „Nicht ohne meine Tocher“, „Nachtzug nach Lissabon“, „Romeo und Julia“, beworben als „Das Buch zum Film“, ich vermute mal so Mitte/Ende 90er herausgekommen, ein Windows-Vista-Buch und etwas namens „Das Ekel aus Säfflon“.

12:20 Ich bin an einer Ecke angekommen, an der sich eine Bäckerei befindet. Ich stelle mich mal in den Eingang, es regnet immer noch, und versuche, mir eine Zigarette zu drehen. An der Bäckerei steht der Spruch: „Transparenz ist keine kapitalistische Tugend“.  Die Bäckerei ist leer, und wird offenbar schon länger nicht mehr betrieben, es sind allerdings immer noch Kekse den Gläsern auf der Theke, unter anderem Sorten namens Schoko-Schoko und Orange-Schoko.

12:25 Gerade ist ein Mann auf einem Elektroroller vorbeigefahren, er trug einen Cowboyhut und eine Jeansjacke mit vielen Nieten. Mein nächstes Projekt ist: Ich sehe von hier aus eine Colaflasche, die auf einem Stromkasten abgestellt ist, das ganze sieht etwas kunstwerkig aus.

12:26 Ich laufe auf die Colaflasche zu, die eigentlich keine Colaflasche ist, sondern eine Flasche Uludag, Wasser, denke ich, obwohl ich nicht wusste, dass Uludag auch Wasser verkauft. Jedenfalls tun sie das laut Angaben auf der Flasche seit 1930. Ein Stück weiter entfernt liegt ein Haargummi.

12:28 Ich schaue mir Rostmuster auf einem, ich würde sagen, mittelgroßen Lastwagen an. Ich möchte nicht sagen, dass der Rost tatsächlich ein Muster formt, es ist aber dennoch faszinierend.

12:29 Ich habe einen Kronkorken mit dem Spruch „Null Besserwisser“ aufgesammelt. 

[13 Minuten später.]  

12:42 Ich schaue in das Innere eines Wohnwagens, da ist ein Gasherd, ein Waschbecken und so ein Dekoelement, ein Dekopapierding.

12:43 Gerade ist der Mensch mit dem Cowboyhut auf dem Elektroroller wieder vorbeigefahren.

12:44 Ich stehe vor einer kombinierten Herren- und Behindertentoilette, einer öffentlichen, da ist eine Rampe dran gebaut und darunter liegen diverse Flaschen. Diese kleinen Flasche Wodka und ich glaube es ist ein jägermeisterähnlicher Kräuterschnaps mit dabei.

12:48 Eben ist eine ältere Frau vorbeigekommen und hat einige der leeren Flaschen aufgesammelt. Jetzt geht sie zum Glascontainer gegenüber und wirft sie weg. Die Frau trägt eine neongelbe Mütze.  

[12 Minuten später.]  

13:00 Ich bin jetzt 80 Minuten unterwegs, fast auch wieder zuhause, vor meiner Tür. Ich laufe gerade einem Wagen vorbei, einem Sprinter, der offensichtlich einer Firma gehört, einige Häuser weiter. Es handelt sich um eine Firma, die Gebäudereinigung, Glasreinigung, Entrümpelung und Transporte anbietet. Ich frage mich, wie die Glasreinigung in diese Reihe passt.

13:01 Ich bin an meinem Ausgangspunkt. Vor der Tür steht ein abgesägter Baum, der zwischen den anderen Bäumen in der Straße etwas kaputt aussieht. Ich vermute es ist ein Baum, der wegen des  Sturms abgesägt werden musste, recht brutal.

13:02 Jetzt bin ich 82 Minuten unterwegs und stehe direkt vor der Haustür und betrachte noch eine leere Geltube, die neben dem Baum liegt.

13:04 Ich habe meinen Block erkundet und gehe jetzt wieder rein.

Versuch: Per Anhalter durch die Region

Versuch: Per Anhalter durch die Region

Die Mitnehmbank: Stationen für Trampende, stehen vereinzelt bereits im ländlichen Raum, als Startpunkt für die Mitnahme durch vorbeifahrende Autos, als Alternative zum öffentlichen Nahverkehr, dessen Netz außerhalb der urbanen Zentren, naja: nicht immer optimal ausgebaut ist. Gute Idee, finden die Mobilauten. Und setzen sich mit einer selbstgebauten Variante einer Mitnehmbank an die Landstraße.

Frage: Wieso nimmt uns niemand mit?

Datum: 7. November 2017, 15:10 Uhr

Ort: 52°22`30" N, 9°44`20" O, irgendwo auf einer Landstraße, Niedersachsen

Die Mobilauten sitzen fest. Auf einer Landstraße im Nirgendwo versuchen sie, zum nächsten Bahnhof zu kommen. Oder zumindest zum nächsten Supermarkt. Per Anhalter von A nach B, so schwer kanns ja nicht sein.

Es passiert erst mal – nichts. Dann: ein Auto. Es fährt auf uns zu. Kurzer Blickkontakt mit der Fahrerin. Vorbei. Der Wagen verschwindet.

Egal, beim ersten Mal klappt es ja nie.

Warten. Daumen raus.

Nr. 2.

Nr. 3.

Und da noch eins. Und da wieder.

Wir beginnen, uns abzuwechseln.

Kein Erfolg.

Die Allee liegt vor uns, das Ziel in weiter Ferne: die Stadt, mit ihren Naheinkaufsmöglichkeiten, der medizinischen Versorgung und den ganzen Freizeitangeboten, Kulturveranstaltungen und Fingernagelstudios, von denen man sich immer fragt, wer da eigentlich reingeht. Wenn man ein paar Stunden am Rand einer Landstraße verbracht hat, weiß man plötzlich, dass French Manicure mehr ist als eine chemikaliengetränkte Geschmacksverirrung, die man für 5,- Euro von einer kleinen Frau mit Mundschutz verpasst bekommt. Wer die ersten 10 Autos an sich vorbeifahren ließ, ohne mitgenommen zu werden, für den (oder die) steht fest: Ich will eine French Manicure, und zwar jetzt sofort.

Es geht um das Recht auf Konsum, oder nein, vielmehr: um die Teilhabe am gesellschaftlichem Leben. Man muss nicht hingehen, könnte aber. Wir jedoch, auf dieser Landstraße, auf unserer Mitnehmbank sitzend, den Daumen raushaltend, können nicht, weder French noch irgendwas, wir können nur: warten. Gut, die Maniküre ist nicht der eigentliche Punkt. Und ihr Fehlen bestimmt auch nicht der Grund, dass wir nicht mitgenommen werden. Denn der Zustand unserer Daumenspitze ist ja aus der Entfernung gar nicht zu erkennen. Sie müssen also andere Gründe haben, uns nicht mitzunehmen, die Menschen in den Autos.

Wirken wir zu wenig vertrauenserweckend? Sollten wir die Mobilautenanzüge ausziehen? Haben sie ein anderes Ziel als wir? Müssen sie schnell weiter und haben keine Zeit, anzuhalten? Fürchten sie sich davor, dass wir in ihrem Auto kleckern oder den Dreck unserer Schuhe auf die Polster verteilen? Fragen sie sich, wer im Versicherungsfall die Kosten übernimmt? Glauben sie, das nächste Fahrzeug wird uns schon mitnehmen? Vermuten sie, wir möchten sie überfallen – oder noch Schlimmeres (was immer)? Hat ihnen niemand erzählt, wie das mit den Mitnehmbänken funktioniert? Oder wissen sie einfach nicht, wie unsere weißen Kisten in ihr Auto passen sollen?

Genug. Wir rufen durchgeforen ein Taxi. Teurer Spaß, aber immerhin: Es kommt, hält an und nimmt uns mit. (Die Kisten kann man übrigens zusammenklappen.) Die Frage, warum uns niemand mitnehmen wollte, lässt uns allerdings nicht los.

"Unterhaltet Euch doch mal mit Hamish", sagt Matze, als unsere gescheiterten Existenzen um 42,- Euro ärmer wieder in der Mobilautenzentrale ankommen. "Er ist aus Neuseeland. Da trampt man morgens sogar zur Arbeit."

Unglaublich. Da wäre man in Deutschland schnell abgemahnt oder ganz ohne Job. Man würde ja entweder zu spät oder gar nicht erscheinen. Ein Gespräch mit jemandem, für den ein Daumen in der Luft keine linksradikale Tourismusform für Backpacker ist, scheint also eine hervorragende Idee. Ein Hitchhiker des Alltags, ein normaler Durchschnittstramper, ein Pionier für die Mobilität im ländlichen Raum – mehr dazu in Kürze.

Die Gläserne Manufaktur: Drehen, Schweben, Gleiten

Die Gläserne Manufaktur: Drehen, Schweben, Gleiten

Er hat Bürgermeister getroffen, Paternoster bezwungen und den Brocken-Benno gefangen. Er hat die Filterblase seiner Existenz durchstoßen und mit Menschen gesprochen, die vorher außerhalb seines Radars lagen. Nun hat er hinter die Gläserne Manufaktur geblickt.

Ein letzter Bericht des Forschungsmobilauten.

(Geschrieben vor seinem Besuch auf der Pegida-Demo.)

Ich erinnere mich an folgende Szene meiner Jugend: Wir sitzen bei einem Freund zuhause, die Mutter, Sportlehrerin, regt sich über das vom Lehrplan vorgeschlagene Sportprofil für einen Kurs auf, der unter dem Topos „Rollen, Schweben, Gleiten“ stehen soll. 

Man stelle sich vor: Eine Lehrkraft betritt die Turnhalle und übermütige Schüler und Schülerinnen haben bereits mit den Inhalten des Kurses begonnen. „Jetzt gleitet doch nicht alle so wild durcheinander. Und nicht bis an die Decke schweben! Rollt doch mal alle ordentlich zusammen: los, los!“ 

Mir persönlich hätte das ja gefallen.  

In dieser Mission lerne ich, wie Volkswagen in der Gläsernen Manufaktur durch Gleiten und Schweben den neuen E-Golf zusammenzaubert und rolle danach mit demselben durch Dresden. Ein Blick auf die Zukunft des Automobilverkehrs.  

Die Gläserne Manufaktur in Dresden wurde eigentlich von Volkswagen eingerichtet, um in einem prestigeträchtigen Werk ein prestigeträchtiges Auto herzustellen: Den VW-Phaeton, der eigentlich das Aushängeschild für VW im Bereich der Luxus-Limousinen darstellen sollte. Verkauft hat sich der Traum von dem Edel-Schlitten leider nicht so gut. Nur in Asien gab es wohl viele Interessierte, aber eigentlich sei das Zeitalter der Limousinen auch vorbei, lerne ich, als ich die futuristische Fabrik besuche und wir vor einem der letzten Phaetons stehen, der hier aus der Fabrik gerollt ist. Obwohl ich nicht ganz genau weiß, ob er wirklich hier raus gefahren ist oder rausgebeamt wurde, denn die Gläserne Manufaktur steht der Zukunftsfähigkeit ihres neuen Produktes, dem E-Golf, in nichts nach. Wenn man sie betritt, glaubt man, das Zeitalter vom Moloch der Großfabrik, die sich selber unter einer Säule aus schwarzen Rauch begräbt, scheint vorbei.  

Drinnen ist es gefühlt so hell wie draußen. Die ganze Fassade ist eine Glasfront. Und obwohl es draußen noch ordentlich sommert, ist es drinnen angenehm kühl. Der Boden ist Echtholzparkett – wenn auch kein Fischgrätenparkett (wie man aus „Mieten-Kaufen-Wohnen“ weiß).

Das Fließband wurde gegen einen Fließboden getauscht, auf denen die Arbeiter*innen mit den Karosserien von Station zu Station fahren. Gut, dass ich heute den Mobilauten-Anzug mal daheim gelassen habe, sonst würde ich glatt mit ihnen verwechselt und ich dürfte vor 16.30 Uhr nicht mehr zurück. Dann müsste ich halt ein Leben als Autobauer in Dresden führen. Sicher nicht ganz schlecht, denn hier wurde alles auf angenehme Arbeitsabläufe ausgerichtet. Kräne lassen die Autos auf verschiedenen Ebenen durch das Werk schweben. Dann kommen sie auf Türmchen, auf denen man sie lustig in alle Positionen drehen und wenden kann, um im günstigen Winkel an ihnen schrauben zu können. Zuletzt werden selbstfahrende Roboter aktiv und liefern der Karosserie das passende Fahrwerk, in der sich auch die große Schmetterlingsbatterie (was für ein blumiger Name...) befindet. Es kommt zur Hochzeit: Boden und Karosserie werden verbunden, ein neuer Golf ist entstanden. Seufz.  

Später darf ich eine Testfahrt mit dem Produkt der Fabrik machen: einem E-Golf. Also einem Produkt der Fabrik. Das andere Produkt der Fabrik ist ein märchenhaftes VW-Image, in dem man glaubt, die Autos der Zukunft würden im Wesentlichen aus einem Gute-Laune-Heititei-Verbundsstoff hergestellt und mit Ahoi-Brause betrieben. Aber ein bisschen Stolz auf eines der ersten markfähigen Elektro-Auto soll ja nun auch erlaubt sein.  

Eines der ersten Elektro-Autos?  

Stimmt gar nicht!  

Denn als ich im Foyer stehe, erfahre ich, dass es schon in den 70ern einen Elektro-VW gab und die Taxis im New York der 20er Jahre auch mit Strom fuhren. Nur die Reichweite war damals ein Problem. Bis zum Ende der Einfahrt und zurück kam man aber schon damals ohne Aufladen.  

Der Golf, in dem ich jetzt sitze kann immerhin etwa 300 Kilometer am Stück brettern. 600 Kilometer Reichweite strebt VW in der Zukunft an. Das bräuchte es, damit der Großteil der Bevölkerung auch den Kauf eines Elektro-Autos in Erwägung ziehen würde, meint der Fahr-Instruktor. Selbiger hilft mir beim Eingewöhnen in das komplett elektronische Fahrzeug. Wobei es formal kaum einen Unterschied zu einem Verbrennungsauto gibt. Blinker, Lenkung, Spiegel- alles erstmal gleich. Die Differenz liegt eher im Fahrverhalten: Da die Spannung direkt in den 1-Gang-Motor fließt gibt es keine Verzögerung durchs Schalten, kein Aufheulen des Motors und kein übertouriges oder untertouriges fahren. Man drückt aufs Pedal und – holla die Waldfee – die Kiste springt flott nach vorne. Wie ein Mariokart – nur halt nicht von Nitendo und in echt. Und genau wie bei Nitendo kommt auch der Fahrsound vom Band. Fahrsound-Schalter ein: WURRRRR! Fahrsound-Schalter aus: (theatrales Zirpen einer Grille in der Ferne).  

Besonders ist auch das Bremsen: Im Grunde braucht der Golf die mechanische Bremse nur um wirklich still zu stehen. Sonst wird die Fahrt-Energie durch Rekuparation in den Akku des Golfs zurückgespiesen. Das bekommt man dann auch direkt angezeigt. Wir fahren einen Berg runter und schwups sind 15 Kilometer mehr auf der Reichweiten-Anzeige. „Das ist aber natürlich kein Perpeto-Mobile“, meint mein Fahrtbegleiter. „Wenn es gleich bergauf geht, sind die auch schnell wieder weg.“ Dennoch habe ich das Gefühl durch die Kilometer-Anzeige Spaß am sparsamen Fahren zu bekommen. Und auch das mit der Reichweite ist eigentlich kein größeres Problem. Denn die meisten Menschen nutzen das Auto für den Arbeitsweg, der durchschnittlich etwa 20 Kilometer beträgt.  

Außerdem könnte es in der Zukunft neue Konzepte von Besitzt und Mobilität geben.  

So wäre es denkbar, dass man sich bei Volkswagen ein Service-Paket bucht. Das beinhaltet dann zum Beispiel Kleinwagen, Bulli und Limousine, die man dann immer wieder gegeneinander tauschen kann. In der Woche gibt’s dann den City-Flitzer, in den Ferien die Familienkutsche. Die tauscht man dann wieder gegen ein Auto, das gerade wieder frei geworden ist - so zeichnet mir mein Begleiter eine mögliche Zukunft an.  

Das klingt etwa so futuristisch wie das Foyer der gläsernen Manufaktur gestaltet ist. In ihm eine mögliche Neuauflage des Alten T1-Bulli, ein 1-Liter-Auto und ein Auto-Innenausbau der Zukunft: ohne Lenker und Amatur, dafür mit einem dicken Infotainmentsystem.  

Nach der Testfahrt schlendere ich noch ein bisschen hier rum. Aber während man hier über ein grünes Morgen nachdenkt, werkelt man Luftlinie 1000 Meter weiter an der Rückkehr in eine traurige Vergangenheit: Auf dem Altmarkt gibt es nämlich heute eine Pegida-Kundgebung. Zur Erforschung der geistigen (Im-)Mobilität will ich mir auch die ansehen.            

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