Besuch in der Kita St. Nikolaus
Besuch in der Kita St. Nikolaus
Am Freitag, den 3.11.2017, waren wir in der Kita St. Nikolaus in Münster zu Besuch. Die Leiterin Monika Rolfes war sehr interessiert an unserem Projekt und bot uns die Möglichkeit, einen Vormittag lang mit den Kindern spielerisch ein paar sensorische Übungen durchzuführen.
Vorab mussten wir selbstverständlich erst die Eltern in einem Anschreiben über unser Projekt informieren und ihr Einverständnis einholen. Der Termin sollte in den Schul-Herbstferien liegen, weil an allen anderen Tagen bereits spezielles Programm für die Kinder geplant war. In den Ferien kommen erfahrungsgemäß nur wenige Kinder in die Kita und die Tage sind nicht so stark durchstrukturiert. Angesprochen wurden die Eltern der 4- und 5-jährigen Kinder. Folgende Übungen hatten wir in dem Elternbrief kurz skizziert:
1. Übung: Was ist schmecken, was ist riechen?
Die Kinder halten sich die Nase zu und versuchen, beim Trinken mit zugehaltener Nase den Unterschied zwischen Apfelsaft und Orangensaft zu schmecken. Gar nicht so einfach, sogar unmöglich, bis man die Nase wieder aufmacht und die fruchtigen Aromen, die die Kinder vermutlich gut kennen, von hinten in die Nasenhöhle strömen und neben den Geschmackseindrücken „süß“ und „sauer“ klar Orange und Apfel unterscheidbar machen. Schmecken ist zu einem großen Teil Riechen aus dem Mundraum in die Nasenhöhle, so genanntes retronasales Riechen!
2. Übung: Ist Schokolade süß oder bitter?
Klar, wie Schokolade schmeckt, weiß jedes Kind. Wirklich? Wir geben den Kindern jeweils ein kleines Stückchen Vollmilch- und Zartbitterschokolade mit der Aufgabe, es so lange im Mund zu behalten wie möglich, idealerweise 120 Sekunden. Was schmeckt man, wenn man genau hinschmeckt? Ganz schön viele unterschiedliche Eindrücke! Und wie werden die Kinder das wohl in Worte fassen?
3. Übung: Wie fühlt sich das an? Wasser mit und ohne Prickeln.
Wasser schmeckt nach gar nichts, oder? Wir lassen die Kinder Wasser mit und ohne Kohlensäure gegeneinander probieren. Was ist der Unterschied? Ist das Geschmack oder nur ein Gefühl auf der Zunge? Ob wohl ein Kind merkt, dass Wasser mit Kohlensäure nicht nur prickelt, sondern auch wirklich saurer schmeckt als eins ohne?
Insgesamt kamen 14 Kinder in 3 Gruppen zusammen, die von der Erzieherin Marina Pinto Americo in einen separaten Raum außerhalb der eigentlichen Gruppenräume begleitet wurden, Der Raum liegt direkt neben einer kleinen Küche, in der die Kinder zusammen mit den Erziehrinnen gelegentlich auch einfache Speisen selbst zubereiten, Plätzchen backen etc. – die „Genießer-Ecke“. Perfekt!
Wir bereiteten den Raum vor:
ein großer gemeinsamer Tisch für die Kinder, die Erzieherin und uns zwei Food-Laboranten.
Dann kommen auch schon die Kinder rein.
1. Gruppe, 6 Kinder
Wir starten mit dem Wasser. Jedes Kind bekommt 2 kleine rote Plastiktassen, eine mit stillem Leitungswasser und eine mit demselben Wasser, das wir im Sodastreamer aufgesprudelt haben. Der Unterschied wird schnell entdeckt und benannt: Eine Tasse sprudelt, die andere nicht. Wir fragen, ob das Sprudelwasser auch nach etwas schmeckt. Die Antwort kommt prompt: nach Sprudel. Fall erledigt, weiteres Nachfragen zwecklos.
Dann wurde es schwieriger: Wieder 2 Tassen, diesmal eine mit Orangensaft, eine mit Apfelsaft. Wir bitten die Kinder, sich beim Trinken die Nase zuzuhalten und machen vor, wie es geht. Das scheint schwierig zu sein. Manche Kinder haben motorische Probleme, sich die Nase wirklich fest zuzuhalten und dabei zu trinken. Andere mogeln: riechen schon vor dem Trinken an der Tasse und halten sich erst dann die Nase zu oder machen die Nase zu früh wieder auf. Einer sagt: Das ist Apfelschorle. Die anderen stimmen zu. Wir fragen nach der zweiten Tasse. Einer sagt: Orangensaft, die anderen nicken.
Letzte Übung: Schokolade 2 Minuten lang im Mund lassen.
Zuerst bittere Schokolade mit einem Hauch Mango drin. Alle greifen gerne zu und lutschen still vor sich hin. Auf dem Handy läuft der Timer rückwärts. Einer kaut sein Stückchen sofort auf und glaubt, wir haben es nicht gemerkt. Nach 2 Minuten sagt der erste: bittere Schokolade. Wir fragen, ob er noch etwas anderes geschmeckt hat als bitter. Er sagt: Erdbeere! Die anderen sagen nichts außer: schmeckt nach Schokolade. Dann die zweite Sorte, wieder 2 Minuten, diesmal gibts Vollmilchschokolade. Die Kinder beschreiben die Unterschiede: süßer und vor allem schneller geschmolzen als die erste Schokolade. Welche hat besser geschmeckt? Etwa die Hälfte mag lieber bitter, die andere Hälfte Vollmilch. Es hat allen Spaß gemacht, wir freuen uns auf die nächste Gruppe und machen eine kurze Manöverkritik in der Pause.
Das muss alles einfacher werden!
2. Gruppe, 4 Kinder
Es gibt nur eine Tasse mit Wasser, alle merken, dass es sprudelt. Wir üben mit der Wassertasse zusammen, mit zugehaltener Nase zu trinken. Als dann die Säfte in der Tasse sind, klappt es etwas besser als bei der ersten Gruppe. Das Ergebnis ist aber ähnlich. Den Unterschied zwischen Nase zu und Nase auf kann kein Kind bemerken oder benennen. „Apfelschorle“ für Apfelsaft wird als Geschmack eher identifiziert als der Orangensaft. Einer spricht es aus, die anderen stimmen zu.
Beim Schokoladenexperiment ein ähnliches Ergebnis wie in der ersten Gruppe: Der Geschmack der Bitterschokolade wird mal mit „bitter“ beschrieben, mal mit „nur Schokolade“, der Geschmack der Vollmilchschokolade mit „Schokolade“ und „Milch“. Präferenzen ungefähr gleich verteilt.
3. Gruppe, 4 Kinder
Wir vereinfachen weiter. Wasser dient als Übungsgetränk fürs Nasezuhalten. Bei den Säften kriegt jedes Kind nur eine Tasse, zwei haben Apfelsaft, zwei Orangensaft. Nasezuhalten klappt nicht perfekt, der Unterschied wird doch teilweise deutlich. Einer behauptet mit geschlossener Nase, der Orangensaft sei Wasser. Die Kinder merken, dass es mit geschlossener Nase schwieriger ist, zu schmecken. Deshalb machen sie sie auch schnell wieder auf. Was die Kinder nicht ahnen, ist, dass nicht alle denselben Saft in der Tasse haben. Das erste Apfelkind sagt bestimmt: „Apfelschorle“, das zweite stimmt zu. Die beiden Orangenkinder sagen gar nichts und lassen sich auch durch Nachfragen nicht zu einem Statement ermuntern. Offenbar haben sie gemerkt, dass sie keinen Apfelsaft in der Tasse haben. Sie wollen aber auch dem ersten Kind nicht widersprechen.
Beim Schokoladentest können wieder zwei der Kinder sicher „Bitterschokolade“ und „Vollmilch“ als Geschmacksrichtungen benennen. Die Präferenzen sind auch wieder gleich verteilt.
Beobachtungen
Die Kinder haben gut mitgespielt und hatten viel Spaß an der Aktion. Im Außenbereich der Kita sprechen unsere Kinder mit denen, die nicht teilnehmen konnten, über ihr Erlebnis und berichten begeistert. Wir sind auch positiv überrascht, wie gut die Kinder mitgemacht haben und wie groß in allen Gruppen das Interesse an den Übungen war.
Was bei den Kindern davon übrig bleibt? Wir wissen es nicht. Vielleicht die Erkenntnis, dass es sich lohnen kann, sich für ein Stück Schokolade die Zeit zu nehmen, die die jeweilige Schokolade braucht.
In der Nachbesprechung sind wir vor allem überwältigt von dem Eindruck, wie stark die Dominanz der Gruppe über den individuellen Geschmack war. Die Gruppendynamik am Tisch war stets der bestimmende Faktor. In der Gesamtheit der 4- und 5-jährigen Kinder waren die individuellen Fähigkeiten, Geschmäcker zu erkennen und zu benennen, erwartungsgemäß sehr unterschiedlich verteilt. Die individuelle Entwicklung der Kinder und ihrer sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten spielt eine große Rolle. Nicht nur die Gruppe dominiert den einzelnen, es lässt sich auch eine klare Bezeichnungsdominanz feststellen. Wenn der Geschmackseindruck „mit Sprudel“ oder „Apfelschorle“ einmal feststeht, wird er nicht weiter hinterfragt, revidiert oder ergänzt. Die individuell unterschiedlich stark ausgeprägten begrifflichen Kategorien strukturieren die sensorische Wahrnehmung sehr stark. An einem Detail lässt sich das sehr gut ablesen: Apfelsaftgeschmack kennen die Kinder vor allem aus der Mischung als Apfelschorle, weil purer Saft für Kinder bei Eltern verpönt ist. Karies und Übergewicht drohen! Im Gegensatz zu Erwachsenen differenzieren die Kinder nicht zwischen Apfelsaft und Apfelschorle. Auch ohne Wasserzugabe wird Apfelgeschmack im Getränk als Apfelschorle bezeichnet. Interessanterweise hat kein Kind gesagt, dass der Apfelsaft nach Apfel schmeckt. Der Saft schmeckt nach Apfelschorle! Der Begriff ist eine starre Kategorie, eine gedankliche Schublade. Schublade auf, Geschmackseindruck rein, Schublade zu.
Bleibt das im Erwachsenenalter eigentlich so?
Die Kategorie Orangensaft/Orange war wesentlich weniger präsent. Offenbar spielt sie im Alltag der Kinder eine untergeordnete Rolle. Wer jemals mit kleinen Kindern im europäischen Ausland unterwegs war, konnte vermutlich auch den Eindruck bekommen, dass die Omnipräsenz der Apfelschorle ein singuläres, kulturspezifisch deutsches Phänomen ist. Wie dem auch sei; Gruppe, Sprache und Kultur sind offenbar Themengebiete, die wir stärker in Betracht ziehen müssen, wenn wir die Geschmackssensorik in ihrer ganzen Multidimensionalität erfassen wollen.
Die Erzieherin Marina Pinto Americo, die bei allen drei Gruppensessions anwesend war, half uns, das eben Erlebte einzuordnen. Die Kinder haben offenbar normal agiert und dasselbe gruppendynamische Verhalten gezeigt wie bei gemeinsamen Mittagessen in den Gruppen.
Wir sind jedenfalls sehr dankbar, dass wir viele Anregungen aus dem Vormittag in der Kita St. Nikolaus mitnehmen durften. Foto, Film- oder Tonaufnahmen haben wir bewusst nicht gemacht, um das Einverständnis der Eltern nicht zu gefährden und die Kinder so natürlich wie möglich agieren zu lassen.