In 80 Minuten um den Block: Eine Pionierfahrt zur Entschleunigung
In 80 Minuten um den Block: Eine Pionierfahrt zur Entschleunigung
Jan Fischer läuft in 80 Minuten um den eigenen Block. Sammelt neongrüne Plastiklöffel, zartrosa Blütenblätter und ein paar helle Momente im Nieselregen seiner Nahumgebung. Ein Ausflug in Zeitlupe.
Frage: Sieht so der Tourismus der Zukunft aus?
Datum: 5. November 2017, 11:40 Uhr
Ort: 52°22`30" N, 9°44`20" O, Wilhelm-Bluhm-Straße, Linden, Hannover
Reisebericht [in Auszügen]
11:40 Ich stehe vor meiner Haustür. Es regnet, und ich frage mich, ob ich nach rechts oder nach links gehen soll.
11:41 Gerade sind drei Mädchen in Regenkleidung und Fahrradhelmen an mir vorbeigelaufen. Ich laufe jetzt nach links los, das ist meine dominante Seite. Weil ich Linkshänder bin.
Ich habe vor unserer Haustür ein Graffiti entdeckt, das ich noch nie vorher gesehen habe. Es ist eine Art Auge.
Gegenüber liegt eine Plastikverpackung eines „Rechteckdichtringes“. Der ist wohl für Thermen.
Eine Taube kommt auf mich zu, läuft hier so durch die Gegend, wackelt mit dem Kopf, versucht, Blätter aufzupicken. Sie kommt mir nicht näher.
Die Visitenkarte eines Gebrauchautohändlers klemmt an einem roten Suzuki Alto.
11:44 Ich schaue bei der KiTa um die Ecke ins Fenster. Da hängt eine Gitarre an der Wand, da hängen auch so Fotos von KiTafesten. Darüber spiegelt sich im Fenster das Stoppschild von gegenüber. Außerdem sieht man Bastelsachen. Im Fenster sind Federn. Vor dem Fenster liegt ein Kaugummi, rosa. Kurz überlegt, ob ich das mitnehme, mache ich aber nicht.
11:47 Ich stehe vor einem Hauseingang mit einem Klingelschild, einer der Namen ist so eigenartig angebracht, also nachträglich und handschriftlich, man weiß gar nicht, wo man klingeln soll, wenn man dort klingeln möchte. Direkt daneben steht ein Müllcontainer, der beklebt ist mit diversen Aufklebern gegen Kapitalismus und für Sneaker. Der Container ist voller noch in Plastik eingeschweißter Ausgaben dieser „Einkauf aktuell“- Gratiszeitung.
[8 Minuten später.]
11:55 Es ist recht viel passiert, eigentlich. Ein Jogger ist vorbeigelaufen, in kurzer Hose. Außerdem habe ich etwas aufgesammelt, ich bin mir nicht sicher, was es ist, Teil eines Buttons vielleicht, oder ein Aufkleber mit einem Bienenmuster. Und die Kirche hat angefangen zu dengeln, mir ist nicht ganz klar, warum. Es ist Sonntag, deshalb vermute ich mal, dass der Gottesdienst vorbei ist, ich habe die Glocken jedenfalls noch nie um diese Uhrzeit gehört.
Jetzt sind hier gerade ein Menge Tauben, die alle irgendwelche Dinge vom Boden aufpicken, die ich nicht erkennen kann. Ich weiß nicht, was sie aufpicken, aber es scheint spannend zu sein.
Von hier aus sehe ich einen Spielplatz, vor dem Spielplatz ist eine Freifläche, auf der ein großer Tisch steht. Auf der Fläche stehen, Setzlinge nennt man das wahrscheinlich nicht mehr, kleinere Bäume, die in Baumhalterungen stecken, lila bemalt. Sie sind bestrickt.
11:58 Ich bin ein wenig von meinem Weg abgewichen, weil ich hier einen „Ganzkörpertrainer“ entdeckt habe. Es ist ein Edelstahlgerät mit zwei, wie sagt man, Fächer, vielleicht. Dinger, jedenfalls, wo man die Füße reintut, es gibt zwei Stangen, die man mit den Händen zieht, und dann sieht es ein wenig so aus als würde man laufen, nur eben auf der Stelle. Das ganze entspricht der DIN-Norm 7900:2012-05 und ist von der Playfit GmbH produziert. Ich lese mir selbst aus der Bedienungsanleitung vor: „Der Ganzkörpertrainer trainiert die Koordination und Kondition. Durch dieses Ganzkörpertraining werden alle wichtigen Muskelgruppen beansprucht und gekräftigt.“ Ich mache das jetzt nicht, es ist nass, und ich habe Angst mich zu verletzen.
Es stehen hier auch noch zwei andere Geräte, an denen man so drehen kann mit den Händen. Es gibt auch einen Mülleimer mit Bank, offensichtlich hat dort jemand ein hartgekochtes Ei gegessen, jedenfalls liegt hier Eierschale.
[8 Minuten später.]
12:06 Ich habe einen Tischkicker entdeckt, der hier draußen steht. Er ist auch wieder vollgeklebt. Hannover 96, Die Linke, Inner Engineering, da ist irgendeine Art von bärtigem Yogi drauf abgebildet.
12:08 Ich habe einen neongrünen Eislöffel auf der Straße entdeckt. Ich packe ihn ein.
12:09 Ich bin auf dem Spielplatz angekommen. Der Boden ist mit Mulch ausgelegt, es gibt diverse Holzgeräte. Architektonisch erinnern sie an „Das Kabinett des Dr. Caligari“.
12:12 Ich klettere ein bisschen auf den Spielgeräten rum, es ist alles recht nass und glitschig. Ich habe einen Hühnchenknochen gefunden und Zigarettenkippen. Das ist jetzt nicht ganz so wahnsinnig interessant, aber vielleicht in der Masse dann doch aussagekräftig.
12:14 Ich beobachte eine Mutter, die mit ihrem Kind über eine Art in den Boden eingelassenes Trampolin läuft. Das Kind ist an einer Leine festgebunden, die die Mutter hält.
Ich verlasse jetzt den Spielplatz durch einen anderen Eingang und bewege mich in Richtung des Bücherschrankes, der hier neben dem Spielplatz steht und versuche, mir den Mal aus der Nähe anzuschauen.
Der Bücherschrank ist natürlich besonders interessant, weil er etwas darüber sagt, was die Leute hier lesen. „Dr. Schiwago“, „Nicht ohne meine Tocher“, „Nachtzug nach Lissabon“, „Romeo und Julia“, beworben als „Das Buch zum Film“, ich vermute mal so Mitte/Ende 90er herausgekommen, ein Windows-Vista-Buch und etwas namens „Das Ekel aus Säfflon“.
12:20 Ich bin an einer Ecke angekommen, an der sich eine Bäckerei befindet. Ich stelle mich mal in den Eingang, es regnet immer noch, und versuche, mir eine Zigarette zu drehen. An der Bäckerei steht der Spruch: „Transparenz ist keine kapitalistische Tugend“. Die Bäckerei ist leer, und wird offenbar schon länger nicht mehr betrieben, es sind allerdings immer noch Kekse den Gläsern auf der Theke, unter anderem Sorten namens Schoko-Schoko und Orange-Schoko.
12:25 Gerade ist ein Mann auf einem Elektroroller vorbeigefahren, er trug einen Cowboyhut und eine Jeansjacke mit vielen Nieten. Mein nächstes Projekt ist: Ich sehe von hier aus eine Colaflasche, die auf einem Stromkasten abgestellt ist, das ganze sieht etwas kunstwerkig aus.
12:26 Ich laufe auf die Colaflasche zu, die eigentlich keine Colaflasche ist, sondern eine Flasche Uludag, Wasser, denke ich, obwohl ich nicht wusste, dass Uludag auch Wasser verkauft. Jedenfalls tun sie das laut Angaben auf der Flasche seit 1930. Ein Stück weiter entfernt liegt ein Haargummi.
12:28 Ich schaue mir Rostmuster auf einem, ich würde sagen, mittelgroßen Lastwagen an. Ich möchte nicht sagen, dass der Rost tatsächlich ein Muster formt, es ist aber dennoch faszinierend.
12:29 Ich habe einen Kronkorken mit dem Spruch „Null Besserwisser“ aufgesammelt.
[13 Minuten später.]
12:42 Ich schaue in das Innere eines Wohnwagens, da ist ein Gasherd, ein Waschbecken und so ein Dekoelement, ein Dekopapierding.
12:43 Gerade ist der Mensch mit dem Cowboyhut auf dem Elektroroller wieder vorbeigefahren.
12:44 Ich stehe vor einer kombinierten Herren- und Behindertentoilette, einer öffentlichen, da ist eine Rampe dran gebaut und darunter liegen diverse Flaschen. Diese kleinen Flasche Wodka und ich glaube es ist ein jägermeisterähnlicher Kräuterschnaps mit dabei.
12:48 Eben ist eine ältere Frau vorbeigekommen und hat einige der leeren Flaschen aufgesammelt. Jetzt geht sie zum Glascontainer gegenüber und wirft sie weg. Die Frau trägt eine neongelbe Mütze.
[12 Minuten später.]
13:00 Ich bin jetzt 80 Minuten unterwegs, fast auch wieder zuhause, vor meiner Tür. Ich laufe gerade einem Wagen vorbei, einem Sprinter, der offensichtlich einer Firma gehört, einige Häuser weiter. Es handelt sich um eine Firma, die Gebäudereinigung, Glasreinigung, Entrümpelung und Transporte anbietet. Ich frage mich, wie die Glasreinigung in diese Reihe passt.
13:01 Ich bin an meinem Ausgangspunkt. Vor der Tür steht ein abgesägter Baum, der zwischen den anderen Bäumen in der Straße etwas kaputt aussieht. Ich vermute es ist ein Baum, der wegen des Sturms abgesägt werden musste, recht brutal.
13:02 Jetzt bin ich 82 Minuten unterwegs und stehe direkt vor der Haustür und betrachte noch eine leere Geltube, die neben dem Baum liegt.
13:04 Ich habe meinen Block erkundet und gehe jetzt wieder rein.