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Beschreibung

Wir wollen Pionierfahrten starten, die auch belächelt und bestaunt werden – doch den Kopf öffnen für Bewegungen, die gerade noch absurd erscheinen.

„Natürlich ist Amerika schon vor Kolumbus entdeckt worden. Und zwar oft.“  (Oskar Wilde) 

Am Anfang steht der Größenwahn. Pioniere der Mobilität, von Ferdinand Magellan bis Bertha Benz, von Charles Lindbergh bis Juri Gagarin. Sie haben sich ins Ungewisse gestürzt, ins Risiko, in die Vision. Sie wurden belächelt oder bestaunt. Aber sie entdeckten neue Welten, neue Wege und neue Formen der Bewegung. Sie haben die Erde dadurch begreifbarer – und auch ein bisschen kleiner werden lassen. Wir wagen es erneut. Im Ideenlab „Utopien der Mobilität“ wollen wir 11 kreativwirtschaftliche Pionierfahrten andenken und auch angehen. Wir suchen die Zukunft der Mobilität nicht bloß in E-Mobility, autonomen Fahren oder Carsharing-Apps. Sondern dahinter. Wir wollen Pionierfahrten starten, die auch belächelt und bestaunt werden – doch den Kopf öffnen für Bewegungen, die gerade noch absurd erscheinen.  

Wir wissen, dass wir scheitern können. Aber je höher die Fallhöhe, desto bombastischer der Sprung.

 Ort: Hannover

Team

Lutz Woellert

Lutz Woellert ist Kulturwissenschaftler und Spielmacher. Er hat an der Universität Hildesheim im Studiengang „Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus“ studiert und sich zum Diplom-Kulturwissenschaftler hochgespielt. Seit dem Hauptstudium beschäftigt er sich verstärkt mit der Ästhetik von Spielen, interaktiven Inszenierungen und dem Buzzword Gamification. 2010 wurde er als Kultur- und Kreativpilot ausgezeichnet. Zusammen mit Björn Vofrei leitet er von Hannover aus die Identitätsstiftung und arbeitet in den Spielfeldern Stadtraum und Beteiligung, Arbeit und Personal sowie Soziales und Gesundheit. Er ändert gern die Spielregeln, gibt Vorlagen und lässt sich erwischen.

Björn Vofrei

Björn Vofrei ist Experte für Identitätsarbeit und Designmanagement. Er hat an der FH-Hannover Kommunikationsdesign auf Diplom studiert und weiterführend das Thema "Identität" in einer Masterarbeit vertieft. 2011 wurde er als Kultur- und Kreativpilot ausgezeichnet. Zusammen mit Lutz Woellert leitet er von Hannover aus die Identitätsstiftung und arbeitet in den Spielfeldern Stadtraum und Beteiligung, Arbeit und Personal sowie Soziales und Gesundheit. Er fragt gern das dritte und auch vierte Mal nach und versucht immer den Gedanken auf ein wesentliches zu reduzieren. Das Thema "Verbesserung des urbanen Lebensumfelds" in Kombination mit der Dynamik der Digitalisierung ist sein Herzensthema. Privat interessiert sich der Vater einer Tochter für analoge Fotografie

Johanna Worbs

Johanna Worbs ist Konzepterin, Literaturwissenschaftlerin und Kulturbildnerin bei der Identitätsstiftung. Nach Stationen in Wien und Hildesheim studierte sie Philosophie und Germanistik (M.A.) an der Leibniz Universität Hannover und denkt sich seitdem in die unterschiedlichsten Strukturen der Welt und der menschlichen Existenz. Konkret hat sie schon einen Verlag in die Arme eines Finanzhais schwimmen lassen, ist bei Theater- und Musikproduktionen gegen die vierte Wand gelaufen, lektoriert gern Texte abseitiger Wissensbereiche und würde gern mal einen Preis für irgendwas gewinnen. Wissenschaftstheorie und Geistesgeschichte haben sie schon immer interessiert – bei Phase 11 darf sie diese Leidenschaft zum ersten Mal jenseits des gedruckten Wortes ausleben.

Norbert Krause

Norbert Krause ist Animateur zum Andersdenken. Der 1980 in Mönchengladbach geborene Konzeptkünstler und Sozio-Designer belebt u.a. mi dem 1qm-Sender Radio Eicken öffentlichen Raum und bringt mit 200 Tage Fahrradstadt Mönchengladbach das Radfahren bei. Krauses Projekte verstehen sich als Katalysator. Sie beschleunigen gesellschaftliche Prozesse oder machen diese erst möglich. Immer mit einer Portion Humor und viel Spaß an der Sache. Ernsthaft! 2015 wird er mit dem Titel „Kultur- und Kreativpilot“ ausgezeichnet, 2016 bekommt er für sein Projekt „200 Tage Fahrradstadt“ den Deutschen Fahrradpreis verliehen. Für die Stadt Mönchengladbach zeichnet er im Rahmen des Masterplan Nahmobilität für die Aspekte Kommunikation und Bürgerbeteiligung verantwortlich. Aktuell gestaltet er für die renommierte Montag Stiftung Urbane Räume einen Beteiligungs- und Aktivierungsprozess im Projekt „Samtweberviertel Krefeld“. Für Vorträge und Workshops wird er u.a. vom Kompetenzzentrum Kultur- und Kreativwirtschaft des Bundes, dem Umweltbundesamt und verschiedenen Kommunen und Organisationen als willkommener Inspirateur gebucht.

Sandro Engel

Sandro Engel ist Designer und gestaltet Interaktionen. Als Grafitti-Artist war der urbane Raum schon immer sein Spielfeld, heute aber in Kombination mit neuen Medien. Nach einem angefangenen Architekturstudium sattelte er auf Grafikdesign und digitale Medien um und beschäftigt sich vor allem mit der User-Experience gestaltet Filme, Grafiken, Interfaces und Games. Er findet gerne spielerische Ansätze und Arbeit muss für ihn Spaß machen. Gemeinsam mit Amelie Künzler leitet er das Kreativbüro Urban Invention. 2014 wurden sie als Kultur- und Kreativpiloten ausgezeichnet. Sie arbeiten täglich daran, den urbanen Raum durch Gamification lebenswerter zu machen und mischen mit ihren disruptiven Ansätzen auch mal die ein oder andere Branche auf.

Amelie Künzler

Amelie Künzler ist Gestalterin und Spezialistin für haptische Erlebnisse. An der HAWK Hildesheim hat sie Produktdesign studiert und in ihrem Master Designmanagement vertieft. Sie spielt mit Formen, Materialien und Archetypen, sie gestaltet Objekte und die Handlungen drum herum. In ihrer Abschlussarbeit hat sie mit ihrem eigenen Unternehmen kooperiert und ein neues interaktives Material erfunden. Sie hat mit Sandro Engel zusammen Urban Invention gegründet und gestaltet hier alles, was man anfassen kann. Sie schmiedet gerne Pläne und Eisen, solange sie heiß sind.

In 80 Minuten um den Block: Eine Pionierfahrt zur Entschleunigung

In 80 Minuten um den Block: Eine Pionierfahrt zur Entschleunigung

Jan Fischer läuft in 80 Minuten um den eigenen Block. Sammelt neongrüne Plastiklöffel, zartrosa Blütenblätter und ein paar helle Momente im Nieselregen seiner Nahumgebung. Ein Ausflug in Zeitlupe.

Frage: Sieht so der Tourismus der Zukunft aus?

Datum: 5. November 2017, 11:40 Uhr

Ort: 52°22`30" N, 9°44`20" O, Wilhelm-Bluhm-Straße, Linden, Hannover

Reisebericht [in Auszügen]

11:40 Ich stehe vor meiner Haustür. Es regnet, und ich frage mich, ob ich nach rechts oder nach links gehen soll.

11:41 Gerade sind drei Mädchen in Regenkleidung und Fahrradhelmen an mir vorbeigelaufen. Ich laufe jetzt nach links los, das ist meine dominante Seite. Weil ich Linkshänder bin.

Ich habe vor unserer Haustür ein Graffiti entdeckt, das ich noch nie vorher gesehen habe. Es ist eine Art Auge. 

Gegenüber liegt eine Plastikverpackung eines „Rechteckdichtringes“. Der ist wohl für Thermen.

Eine Taube kommt auf mich zu, läuft hier so durch die Gegend, wackelt mit dem Kopf, versucht, Blätter aufzupicken. Sie kommt mir nicht näher.

Die Visitenkarte eines Gebrauchautohändlers klemmt an einem roten Suzuki Alto.

11:44 Ich schaue bei der KiTa um die Ecke ins Fenster. Da hängt eine Gitarre an der Wand, da hängen auch so Fotos von KiTafesten. Darüber spiegelt sich im Fenster das Stoppschild von gegenüber. Außerdem sieht man Bastelsachen. Im Fenster sind Federn. Vor dem Fenster liegt ein Kaugummi, rosa. Kurz überlegt, ob ich das mitnehme, mache ich aber nicht.

11:47 Ich stehe vor einem Hauseingang mit einem Klingelschild, einer der Namen ist so eigenartig angebracht, also nachträglich und handschriftlich, man weiß gar nicht, wo man klingeln soll, wenn man dort klingeln möchte. Direkt daneben steht ein Müllcontainer, der beklebt ist mit diversen Aufklebern gegen Kapitalismus und für Sneaker. Der Container ist voller noch in Plastik eingeschweißter Ausgaben dieser „Einkauf aktuell“- Gratiszeitung. 

[8 Minuten später.]  

11:55 Es ist recht viel passiert, eigentlich. Ein Jogger ist vorbeigelaufen, in kurzer Hose. Außerdem habe ich etwas aufgesammelt, ich bin mir nicht sicher, was es ist, Teil eines Buttons vielleicht, oder ein Aufkleber mit einem Bienenmuster. Und die Kirche hat angefangen zu dengeln, mir ist nicht ganz klar, warum. Es ist Sonntag, deshalb vermute ich mal, dass der Gottesdienst vorbei ist, ich habe die Glocken jedenfalls noch nie um diese Uhrzeit gehört.

Jetzt sind hier gerade ein Menge Tauben, die alle irgendwelche Dinge vom Boden aufpicken, die ich nicht erkennen kann. Ich weiß nicht, was sie aufpicken, aber es scheint spannend zu sein.

Von hier aus sehe ich einen Spielplatz, vor dem Spielplatz ist eine Freifläche, auf der ein großer Tisch steht. Auf der Fläche stehen, Setzlinge nennt man das wahrscheinlich nicht mehr, kleinere Bäume, die in Baumhalterungen stecken, lila bemalt. Sie sind bestrickt.

11:58 Ich bin ein wenig von meinem Weg abgewichen, weil ich hier einen „Ganzkörpertrainer“ entdeckt habe. Es ist ein Edelstahlgerät mit zwei, wie sagt man, Fächer, vielleicht. Dinger, jedenfalls, wo man die Füße reintut, es gibt zwei Stangen, die man mit den Händen zieht, und dann sieht es ein wenig so aus als würde man laufen, nur eben auf der Stelle. Das ganze entspricht der DIN-Norm 7900:2012-05 und ist von der Playfit GmbH produziert. Ich lese mir selbst aus der Bedienungsanleitung vor: „Der Ganzkörpertrainer trainiert die Koordination und Kondition. Durch dieses Ganzkörpertraining werden alle wichtigen Muskelgruppen beansprucht und gekräftigt.“ Ich mache das jetzt nicht, es ist nass, und ich habe Angst mich zu verletzen. 

Es stehen hier auch noch zwei andere Geräte, an denen man so drehen kann mit den Händen. Es gibt auch einen Mülleimer mit Bank, offensichtlich hat dort jemand ein hartgekochtes Ei gegessen, jedenfalls liegt hier Eierschale.  

[8 Minuten später.] 

12:06 Ich habe einen Tischkicker entdeckt, der hier draußen steht. Er ist auch wieder vollgeklebt. Hannover 96, Die Linke, Inner Engineering, da ist irgendeine Art von bärtigem Yogi drauf abgebildet.

12:08 Ich habe einen neongrünen Eislöffel auf der Straße entdeckt. Ich packe ihn ein.

12:09 Ich bin auf dem Spielplatz angekommen. Der Boden ist mit Mulch ausgelegt, es gibt diverse Holzgeräte. Architektonisch erinnern sie an „Das Kabinett des Dr. Caligari“.

12:12 Ich klettere ein bisschen auf den Spielgeräten rum, es ist alles recht nass und glitschig. Ich habe einen Hühnchenknochen gefunden und Zigarettenkippen. Das ist jetzt nicht ganz so wahnsinnig interessant, aber vielleicht in der Masse dann doch aussagekräftig.

12:14 Ich beobachte eine Mutter, die mit ihrem Kind über eine Art in den Boden eingelassenes Trampolin läuft. Das Kind ist an einer Leine festgebunden, die die Mutter hält.

Ich verlasse jetzt den Spielplatz durch einen anderen Eingang und bewege mich in Richtung des Bücherschrankes, der hier neben dem Spielplatz steht und versuche, mir den Mal aus der Nähe anzuschauen. 

Der Bücherschrank ist natürlich besonders interessant, weil er etwas darüber sagt, was die Leute hier lesen. „Dr. Schiwago“, „Nicht ohne meine Tocher“, „Nachtzug nach Lissabon“, „Romeo und Julia“, beworben als „Das Buch zum Film“, ich vermute mal so Mitte/Ende 90er herausgekommen, ein Windows-Vista-Buch und etwas namens „Das Ekel aus Säfflon“.

12:20 Ich bin an einer Ecke angekommen, an der sich eine Bäckerei befindet. Ich stelle mich mal in den Eingang, es regnet immer noch, und versuche, mir eine Zigarette zu drehen. An der Bäckerei steht der Spruch: „Transparenz ist keine kapitalistische Tugend“.  Die Bäckerei ist leer, und wird offenbar schon länger nicht mehr betrieben, es sind allerdings immer noch Kekse den Gläsern auf der Theke, unter anderem Sorten namens Schoko-Schoko und Orange-Schoko.

12:25 Gerade ist ein Mann auf einem Elektroroller vorbeigefahren, er trug einen Cowboyhut und eine Jeansjacke mit vielen Nieten. Mein nächstes Projekt ist: Ich sehe von hier aus eine Colaflasche, die auf einem Stromkasten abgestellt ist, das ganze sieht etwas kunstwerkig aus.

12:26 Ich laufe auf die Colaflasche zu, die eigentlich keine Colaflasche ist, sondern eine Flasche Uludag, Wasser, denke ich, obwohl ich nicht wusste, dass Uludag auch Wasser verkauft. Jedenfalls tun sie das laut Angaben auf der Flasche seit 1930. Ein Stück weiter entfernt liegt ein Haargummi.

12:28 Ich schaue mir Rostmuster auf einem, ich würde sagen, mittelgroßen Lastwagen an. Ich möchte nicht sagen, dass der Rost tatsächlich ein Muster formt, es ist aber dennoch faszinierend.

12:29 Ich habe einen Kronkorken mit dem Spruch „Null Besserwisser“ aufgesammelt. 

[13 Minuten später.]  

12:42 Ich schaue in das Innere eines Wohnwagens, da ist ein Gasherd, ein Waschbecken und so ein Dekoelement, ein Dekopapierding.

12:43 Gerade ist der Mensch mit dem Cowboyhut auf dem Elektroroller wieder vorbeigefahren.

12:44 Ich stehe vor einer kombinierten Herren- und Behindertentoilette, einer öffentlichen, da ist eine Rampe dran gebaut und darunter liegen diverse Flaschen. Diese kleinen Flasche Wodka und ich glaube es ist ein jägermeisterähnlicher Kräuterschnaps mit dabei.

12:48 Eben ist eine ältere Frau vorbeigekommen und hat einige der leeren Flaschen aufgesammelt. Jetzt geht sie zum Glascontainer gegenüber und wirft sie weg. Die Frau trägt eine neongelbe Mütze.  

[12 Minuten später.]  

13:00 Ich bin jetzt 80 Minuten unterwegs, fast auch wieder zuhause, vor meiner Tür. Ich laufe gerade einem Wagen vorbei, einem Sprinter, der offensichtlich einer Firma gehört, einige Häuser weiter. Es handelt sich um eine Firma, die Gebäudereinigung, Glasreinigung, Entrümpelung und Transporte anbietet. Ich frage mich, wie die Glasreinigung in diese Reihe passt.

13:01 Ich bin an meinem Ausgangspunkt. Vor der Tür steht ein abgesägter Baum, der zwischen den anderen Bäumen in der Straße etwas kaputt aussieht. Ich vermute es ist ein Baum, der wegen des  Sturms abgesägt werden musste, recht brutal.

13:02 Jetzt bin ich 82 Minuten unterwegs und stehe direkt vor der Haustür und betrachte noch eine leere Geltube, die neben dem Baum liegt.

13:04 Ich habe meinen Block erkundet und gehe jetzt wieder rein.

Versuch: Per Anhalter durch die Region

Versuch: Per Anhalter durch die Region

Die Mitnehmbank: Stationen für Trampende, stehen vereinzelt bereits im ländlichen Raum, als Startpunkt für die Mitnahme durch vorbeifahrende Autos, als Alternative zum öffentlichen Nahverkehr, dessen Netz außerhalb der urbanen Zentren, naja: nicht immer optimal ausgebaut ist. Gute Idee, finden die Mobilauten. Und setzen sich mit einer selbstgebauten Variante einer Mitnehmbank an die Landstraße.

Frage: Wieso nimmt uns niemand mit?

Datum: 7. November 2017, 15:10 Uhr

Ort: 52°22`30" N, 9°44`20" O, irgendwo auf einer Landstraße, Niedersachsen

Die Mobilauten sitzen fest. Auf einer Landstraße im Nirgendwo versuchen sie, zum nächsten Bahnhof zu kommen. Oder zumindest zum nächsten Supermarkt. Per Anhalter von A nach B, so schwer kanns ja nicht sein.

Es passiert erst mal – nichts. Dann: ein Auto. Es fährt auf uns zu. Kurzer Blickkontakt mit der Fahrerin. Vorbei. Der Wagen verschwindet.

Egal, beim ersten Mal klappt es ja nie.

Warten. Daumen raus.

Nr. 2.

Nr. 3.

Und da noch eins. Und da wieder.

Wir beginnen, uns abzuwechseln.

Kein Erfolg.

Die Allee liegt vor uns, das Ziel in weiter Ferne: die Stadt, mit ihren Naheinkaufsmöglichkeiten, der medizinischen Versorgung und den ganzen Freizeitangeboten, Kulturveranstaltungen und Fingernagelstudios, von denen man sich immer fragt, wer da eigentlich reingeht. Wenn man ein paar Stunden am Rand einer Landstraße verbracht hat, weiß man plötzlich, dass French Manicure mehr ist als eine chemikaliengetränkte Geschmacksverirrung, die man für 5,- Euro von einer kleinen Frau mit Mundschutz verpasst bekommt. Wer die ersten 10 Autos an sich vorbeifahren ließ, ohne mitgenommen zu werden, für den (oder die) steht fest: Ich will eine French Manicure, und zwar jetzt sofort.

Es geht um das Recht auf Konsum, oder nein, vielmehr: um die Teilhabe am gesellschaftlichem Leben. Man muss nicht hingehen, könnte aber. Wir jedoch, auf dieser Landstraße, auf unserer Mitnehmbank sitzend, den Daumen raushaltend, können nicht, weder French noch irgendwas, wir können nur: warten. Gut, die Maniküre ist nicht der eigentliche Punkt. Und ihr Fehlen bestimmt auch nicht der Grund, dass wir nicht mitgenommen werden. Denn der Zustand unserer Daumenspitze ist ja aus der Entfernung gar nicht zu erkennen. Sie müssen also andere Gründe haben, uns nicht mitzunehmen, die Menschen in den Autos.

Wirken wir zu wenig vertrauenserweckend? Sollten wir die Mobilautenanzüge ausziehen? Haben sie ein anderes Ziel als wir? Müssen sie schnell weiter und haben keine Zeit, anzuhalten? Fürchten sie sich davor, dass wir in ihrem Auto kleckern oder den Dreck unserer Schuhe auf die Polster verteilen? Fragen sie sich, wer im Versicherungsfall die Kosten übernimmt? Glauben sie, das nächste Fahrzeug wird uns schon mitnehmen? Vermuten sie, wir möchten sie überfallen – oder noch Schlimmeres (was immer)? Hat ihnen niemand erzählt, wie das mit den Mitnehmbänken funktioniert? Oder wissen sie einfach nicht, wie unsere weißen Kisten in ihr Auto passen sollen?

Genug. Wir rufen durchgeforen ein Taxi. Teurer Spaß, aber immerhin: Es kommt, hält an und nimmt uns mit. (Die Kisten kann man übrigens zusammenklappen.) Die Frage, warum uns niemand mitnehmen wollte, lässt uns allerdings nicht los.

"Unterhaltet Euch doch mal mit Hamish", sagt Matze, als unsere gescheiterten Existenzen um 42,- Euro ärmer wieder in der Mobilautenzentrale ankommen. "Er ist aus Neuseeland. Da trampt man morgens sogar zur Arbeit."

Unglaublich. Da wäre man in Deutschland schnell abgemahnt oder ganz ohne Job. Man würde ja entweder zu spät oder gar nicht erscheinen. Ein Gespräch mit jemandem, für den ein Daumen in der Luft keine linksradikale Tourismusform für Backpacker ist, scheint also eine hervorragende Idee. Ein Hitchhiker des Alltags, ein normaler Durchschnittstramper, ein Pionier für die Mobilität im ländlichen Raum – mehr dazu in Kürze.

Die Gläserne Manufaktur: Drehen, Schweben, Gleiten

Die Gläserne Manufaktur: Drehen, Schweben, Gleiten

Er hat Bürgermeister getroffen, Paternoster bezwungen und den Brocken-Benno gefangen. Er hat die Filterblase seiner Existenz durchstoßen und mit Menschen gesprochen, die vorher außerhalb seines Radars lagen. Nun hat er hinter die Gläserne Manufaktur geblickt.

Ein letzter Bericht des Forschungsmobilauten.

(Geschrieben vor seinem Besuch auf der Pegida-Demo.)

Ich erinnere mich an folgende Szene meiner Jugend: Wir sitzen bei einem Freund zuhause, die Mutter, Sportlehrerin, regt sich über das vom Lehrplan vorgeschlagene Sportprofil für einen Kurs auf, der unter dem Topos „Rollen, Schweben, Gleiten“ stehen soll. 

Man stelle sich vor: Eine Lehrkraft betritt die Turnhalle und übermütige Schüler und Schülerinnen haben bereits mit den Inhalten des Kurses begonnen. „Jetzt gleitet doch nicht alle so wild durcheinander. Und nicht bis an die Decke schweben! Rollt doch mal alle ordentlich zusammen: los, los!“ 

Mir persönlich hätte das ja gefallen.  

In dieser Mission lerne ich, wie Volkswagen in der Gläsernen Manufaktur durch Gleiten und Schweben den neuen E-Golf zusammenzaubert und rolle danach mit demselben durch Dresden. Ein Blick auf die Zukunft des Automobilverkehrs.  

Die Gläserne Manufaktur in Dresden wurde eigentlich von Volkswagen eingerichtet, um in einem prestigeträchtigen Werk ein prestigeträchtiges Auto herzustellen: Den VW-Phaeton, der eigentlich das Aushängeschild für VW im Bereich der Luxus-Limousinen darstellen sollte. Verkauft hat sich der Traum von dem Edel-Schlitten leider nicht so gut. Nur in Asien gab es wohl viele Interessierte, aber eigentlich sei das Zeitalter der Limousinen auch vorbei, lerne ich, als ich die futuristische Fabrik besuche und wir vor einem der letzten Phaetons stehen, der hier aus der Fabrik gerollt ist. Obwohl ich nicht ganz genau weiß, ob er wirklich hier raus gefahren ist oder rausgebeamt wurde, denn die Gläserne Manufaktur steht der Zukunftsfähigkeit ihres neuen Produktes, dem E-Golf, in nichts nach. Wenn man sie betritt, glaubt man, das Zeitalter vom Moloch der Großfabrik, die sich selber unter einer Säule aus schwarzen Rauch begräbt, scheint vorbei.  

Drinnen ist es gefühlt so hell wie draußen. Die ganze Fassade ist eine Glasfront. Und obwohl es draußen noch ordentlich sommert, ist es drinnen angenehm kühl. Der Boden ist Echtholzparkett – wenn auch kein Fischgrätenparkett (wie man aus „Mieten-Kaufen-Wohnen“ weiß).

Das Fließband wurde gegen einen Fließboden getauscht, auf denen die Arbeiter*innen mit den Karosserien von Station zu Station fahren. Gut, dass ich heute den Mobilauten-Anzug mal daheim gelassen habe, sonst würde ich glatt mit ihnen verwechselt und ich dürfte vor 16.30 Uhr nicht mehr zurück. Dann müsste ich halt ein Leben als Autobauer in Dresden führen. Sicher nicht ganz schlecht, denn hier wurde alles auf angenehme Arbeitsabläufe ausgerichtet. Kräne lassen die Autos auf verschiedenen Ebenen durch das Werk schweben. Dann kommen sie auf Türmchen, auf denen man sie lustig in alle Positionen drehen und wenden kann, um im günstigen Winkel an ihnen schrauben zu können. Zuletzt werden selbstfahrende Roboter aktiv und liefern der Karosserie das passende Fahrwerk, in der sich auch die große Schmetterlingsbatterie (was für ein blumiger Name...) befindet. Es kommt zur Hochzeit: Boden und Karosserie werden verbunden, ein neuer Golf ist entstanden. Seufz.  

Später darf ich eine Testfahrt mit dem Produkt der Fabrik machen: einem E-Golf. Also einem Produkt der Fabrik. Das andere Produkt der Fabrik ist ein märchenhaftes VW-Image, in dem man glaubt, die Autos der Zukunft würden im Wesentlichen aus einem Gute-Laune-Heititei-Verbundsstoff hergestellt und mit Ahoi-Brause betrieben. Aber ein bisschen Stolz auf eines der ersten markfähigen Elektro-Auto soll ja nun auch erlaubt sein.  

Eines der ersten Elektro-Autos?  

Stimmt gar nicht!  

Denn als ich im Foyer stehe, erfahre ich, dass es schon in den 70ern einen Elektro-VW gab und die Taxis im New York der 20er Jahre auch mit Strom fuhren. Nur die Reichweite war damals ein Problem. Bis zum Ende der Einfahrt und zurück kam man aber schon damals ohne Aufladen.  

Der Golf, in dem ich jetzt sitze kann immerhin etwa 300 Kilometer am Stück brettern. 600 Kilometer Reichweite strebt VW in der Zukunft an. Das bräuchte es, damit der Großteil der Bevölkerung auch den Kauf eines Elektro-Autos in Erwägung ziehen würde, meint der Fahr-Instruktor. Selbiger hilft mir beim Eingewöhnen in das komplett elektronische Fahrzeug. Wobei es formal kaum einen Unterschied zu einem Verbrennungsauto gibt. Blinker, Lenkung, Spiegel- alles erstmal gleich. Die Differenz liegt eher im Fahrverhalten: Da die Spannung direkt in den 1-Gang-Motor fließt gibt es keine Verzögerung durchs Schalten, kein Aufheulen des Motors und kein übertouriges oder untertouriges fahren. Man drückt aufs Pedal und – holla die Waldfee – die Kiste springt flott nach vorne. Wie ein Mariokart – nur halt nicht von Nitendo und in echt. Und genau wie bei Nitendo kommt auch der Fahrsound vom Band. Fahrsound-Schalter ein: WURRRRR! Fahrsound-Schalter aus: (theatrales Zirpen einer Grille in der Ferne).  

Besonders ist auch das Bremsen: Im Grunde braucht der Golf die mechanische Bremse nur um wirklich still zu stehen. Sonst wird die Fahrt-Energie durch Rekuparation in den Akku des Golfs zurückgespiesen. Das bekommt man dann auch direkt angezeigt. Wir fahren einen Berg runter und schwups sind 15 Kilometer mehr auf der Reichweiten-Anzeige. „Das ist aber natürlich kein Perpeto-Mobile“, meint mein Fahrtbegleiter. „Wenn es gleich bergauf geht, sind die auch schnell wieder weg.“ Dennoch habe ich das Gefühl durch die Kilometer-Anzeige Spaß am sparsamen Fahren zu bekommen. Und auch das mit der Reichweite ist eigentlich kein größeres Problem. Denn die meisten Menschen nutzen das Auto für den Arbeitsweg, der durchschnittlich etwa 20 Kilometer beträgt.  

Außerdem könnte es in der Zukunft neue Konzepte von Besitzt und Mobilität geben.  

So wäre es denkbar, dass man sich bei Volkswagen ein Service-Paket bucht. Das beinhaltet dann zum Beispiel Kleinwagen, Bulli und Limousine, die man dann immer wieder gegeneinander tauschen kann. In der Woche gibt’s dann den City-Flitzer, in den Ferien die Familienkutsche. Die tauscht man dann wieder gegen ein Auto, das gerade wieder frei geworden ist - so zeichnet mir mein Begleiter eine mögliche Zukunft an.  

Das klingt etwa so futuristisch wie das Foyer der gläsernen Manufaktur gestaltet ist. In ihm eine mögliche Neuauflage des Alten T1-Bulli, ein 1-Liter-Auto und ein Auto-Innenausbau der Zukunft: ohne Lenker und Amatur, dafür mit einem dicken Infotainmentsystem.  

Nach der Testfahrt schlendere ich noch ein bisschen hier rum. Aber während man hier über ein grünes Morgen nachdenkt, werkelt man Luftlinie 1000 Meter weiter an der Rückkehr in eine traurige Vergangenheit: Auf dem Altmarkt gibt es nämlich heute eine Pegida-Kundgebung. Zur Erforschung der geistigen (Im-)Mobilität will ich mir auch die ansehen.            

Autonomes Fahren: Eine Pionierfahrt des Denkens

Autonomes Fahren: Eine Pionierfahrt des Denkens

"Ein Auto sollte wertschätzen, wenn sich jemand an Verkehrsregeln hält."

Ein Gespräch mit dem Philosophen und Informatiker Markus Ahlers über selbstfahrende Autos und ethische Fragen.

Frage: Welche ethischen Positionen werden beim autonomen Fahren diskutiert?

Ort: 52° 23′ 37, 3″ N, 9° 43′ 5, 2″ O, irgendwo in Uni-Nähe, Hannover

Datum: 31. Oktober 2017, 14:30 Uhr

Wie autonom sind autonome Fahrzeuge aus Deiner Sicht? 

Roboter und auch autonom fahrende Autos werden, so ist meine Vermutung, bereits jetzt als autonome Wesen von Leuten, die nicht technik-ausgebildet sind, wahrgenommen. Kaum jemand kennt den Progammcode, der in einem autonomen Fahrzeug steckt. Es wirkt quasi, als ob es autonom wäre. Streng philosophisch ist es allerdings nicht autonom. Dafür muss man nicht mal Kant heranziehen, der einen sehr strengen Autonomiebegriff hat. Es gibt keine Vernunft, kein Reflektionsvermögen in der Maschine. Maschinen oder Roboter werden in soziale Systeme eingeführt und dort von den Menschen als autonom agierende Wesen wahrgenommen. Und das wiederum ändert soziale Systeme, insbesondere die Erwartungshaltungen und Vereinbarungsverhältnisse, die darin wirksam sind.  

Inwiefern verändern sich die Vereinbarungsverhältnisse?  

Meiner Ansicht nach lebt das Verkehrssystem wesentlich davon, dass alle sich an Verkehrsregeln halten. Diese differenzieren zum Beispiel zwischen Bürgersteig und Straße. Die Verkehrsbereiche werden erst dadurch realisiert, dass alle Verkehrsteilnehmenden sich daran halten. Nehmen wir ein Beispiel: Ein Fußgänger geht auf dem Bürgersteig und ein selbstfahrendes Auto fährt die Straße entlang. Plötzlich betritt eine Menschengruppe die Fahrbahn, sodass eine Kollision durch Bremsen nicht zu vermeiden ist. Das Auto kann nur die Gruppe oder den Fußgänger überfahren. Entscheidet das Auto nur aufgrund der Gruppengröße, wen es überfahren soll, dann würde es den Fußgänger opfern, um die Personengruppe auf der Fahrbahn zu schonen. Das widerrum hat einen Einfluss auf das System. Denn der Fußgänger, der sich an die Verkehrsregeln gehalten hat, verliert dadurch einen Anreiz, sich künftig auch an die Regeln  zu halten. Ignoriert er die Regel folglich, dann wiederum können sich die anderen Verkehrsteilnehmenden nicht mehr auf den Fußgänger verlassen. Wodurch es für diese ebenfalls weniger reizvoll ist, sich an die Regeln zu halten. Die Erwartungshaltungen im Verkehrssystem werden quasi unterminiert, wenn autonome Fahrzeuge so agieren und Regelkonformität ignorieren. Und das wiederum schädigt die Sicherheit im Verkehr, weil diese davon lebt, dass alle sich an diese Verhaltensweisen halten, so dass man immer einigermaßen antizipieren kann, was gleich passiert. Ich erwarte einfach, wenn ich eine grüne Ampel habe, dass ich sicher die Straße überqueren kann, genau weil  ich erwarte, dass alle andern Verkehrsteiknehmer sich an die Verkehrsregeln halten. Der grundlegende Punkt ist, dass Roboter oder autonome Fahrzeuge diese Regeln eben auch beachten müssen. Das macht die Einführung schwierig, weil die Lage so komplex ist. Nicht nur in technischer, sondern auch in gesellschaftlicher Hinsicht.  

Aber würden autonome Fahrzeuge nicht dazu beitragen, dass es weniger irrationale Handlungen gibt, mehr Regelkonformität und damit eine bessere Einschätzbarkeit im Straßenverkehr vorliegt? 

Ja, schon. Man vermutet, dass die Verkehrsunfälle drastisch reduziert werden würden. 70 bis 95% der Verkehrsunfälle sind menschenverursacht. Da ist es eine große Motivation, autonome Fahrzeuge einzuführen. Zudem könnte man die Sicherheit damit stärken; nicht zuletzt weil man sich genau darauf verlassen könnte, wie autonome Fahrzeuge agieren – wenn die Technik erst einmal ausgereift ist. Aber ihre Entscheidungen müssen transparent sein. Es geht nicht nur darum, dass aus der Sicht des Autos das Auto richtig gehandelt hat, sondern es geht auch darum, dass die anderen Verkehrsteilnehmenden wissen und einschätzen können, was das Auto machen wird. Oft geht es in der öffentlichen Diskussion um die Frage: „Was soll das Auto in einer Dilemmasituation machen? Ist die Gruppengröße entscheidend? Sollen Kinder eher als Erwachsende geschützt werden?“ Entscheidend ist meiner Ansicht nach aber vor allem, dass die Menschen, die mit den Autos im Straßenverkehr interagieren müssen, wissen, was diese Autos machen werden- sodass die Menschen sich darauf einstellen können.  

Dass Transparenz gegeben ist und klar ist, nach welchen Kriterien autonome Fahrzeuge entscheiden, was sie tun?  

Genau. Dass also ihre scheinbare Autonomie einschätzbar ist.

Sprechen wir über ein moralisches Dilemma. Nach welchen Kriterien könnte ein autonomes Fahrzeug entscheiden?  

Da gibt es verschiedene Positionen. Ziehen wir das mal am Trolley-Problem auf: Eine Straßenbahn hat die Kontrolle verloren, es gibt die Möglichkeit, eine Weiche zu stellen, fünf Leute sterben – oder nur eine Person stirbt. Das Gedankenexperiment ist in der Abtreibungsdebatte entstanden und wurde von Philippa Foot zum ersten Mal formuliert. Man kann an diesem Beispiel gut den Unterschied zwischen dem kantischen kategorischen Imperativ und dem Utilitarismus darstellen. Nach Kant ist es nicht so leicht zu argumentieren, die Weiche zu stellen, sodass die eine Person statt die fünf Leute umgefahren wird. Eine schlechte Handlung ist nach Kant nicht durch eine gute Konsequenz zu rechtfertigen. Beim Utilitarismus, bei dem es ja um Nutzenmaximierung geht, ist es ebenfalls eine ziemlich klare Sache: Die fünf Personen müssen geschützt werden, denn dann wäre das Leid minimal beziehungsweise der Nutzen maximal. Dann gibt es noch die Philosophen, die sagen, dass die moralisch richtige Entscheidung je nach Situation unterschiedlich ist. Intuition kann sich schnell ändern: Wenn es die eine Person ist, die als einziger Mensch Krebs heilen kann und die fünf anderen nicht, dann dreht sich plötzlich das Blatt.  Dann gibt es auch Positionen, die fordern, dass jeder Nutzer und jede Nutzerin der Autos die Entscheidung selbst treffen soll. Dann würde man in einem Programm-Menü selbst auswählen und vorher entscheiden, nach welchen Kriterien das Auto in so einer Dilemmasituation entscheidet.  

Dann würde man erst einmal eine moralische Position bestimmen, bevor man losfährt. Welche Position ist aus wirtschaftlicher Sicht sinnvoll?  

Genau, in dem Fall würde man selbst bestimmen, nach welchen Kriterien das Auto entscheiden sollte. Und aus wirtschaftlicher Sicht muss sich ein selbstfahrendes Autos vor allem auf dem freien Markt beweisen. Dass der Nutzer oder die Nutzerin des autonomen Fahrzeugs umkommt, ist keine Option. Da keine Person so ein Auto kaufen würde.    

Welche Position vertrittst du?  

Ich suche noch nach ihr. Aber ich denke vor allem, dass die Verkehrsregeln eingehalten werden sollten und das danach geschaut werden soll, dass das Auto in einer moralischen Dilemmasituation quasi wertschätzt, wenn andere die Verkehrsregeln einhalten. Es ist nicht unwichtig, wer für die Dilemmasituation verantwortlich ist. Wenn fünf betrunkene Menschen einfach auf die Straße rennen und eine Person auf dem Fußweg ist, sollte das Fahrzeug sicherlich nicht die vernünftige Person auf dem Bürgersteig opfern - die Intuition ist recht klar.  

Nach welchen moralischen Kriterien werden autonome Systeme denn zurzeit von den Unternehmen entwickelt?  

Ich sitze ja nicht in den Unternehmen, und es sind auch meistens Juristen und Juristinnen, mit denen die reden. Da werden auch die ethischen Probleme diskutiert, aber Unternehmen sind, so wie ich es wahrnehme, mehr daran interessiert, eine klare Rechtslage zu haben, weil der Gesetzgeber sie noch nicht geschaffen hat. Es gibt strafrechtlich sowie zivilrechtlich an einigen Stellen noch Klärungsbedarf. Also zivilrechtlich: Was bedeutet es, wenn es technisches Versagen ist? Wer muss die Kosten tragen? Und dann strafrechtlich: Wer ist für den Tod eines Menschen verantwortlich? Wer muss ins Gefängnis? Darüber muss noch geredet werden. Herr Dobrindt hat ja gerade die Ethik-Kommission da gehabt, die haben 30 Seiten zum Thema vorgelegt. Sie haben zum Beispiel darauf hingewiesen, dass Alter, Hautfarbe und Geschlecht keine Rolle spielen dürfen. Das sind jetzt keine überraschenden Thesen, aber die klassischen Grundlagen, die auch irgendwo mal stehen müssen.  

Welche gesellschaftlichen Veränderungen siehst du mit der Einführung dieser Technologie?  

Die Technik selbst wird auf alle Fälle entwickelt und wird kommen, darüber müssen wir nicht mehr diskutieren. In der Debatte im Feuilleton wird oft die These aufgestellt, dass wir mit der Nutzung selbstfahrender Autos unsere geistige Autonomie verlieren könnten. Daran glaube ich nicht. Woran viele zum Beispiel nicht denken: Menschen, die nicht Auto fahren können, sind mobiler, nicht mehr auf andere angewiesen. Die Technik könnte ihnen also gerade das Gefühl der Autonomie geben. Und aus der Notwendigkeit zu reflektieren kommen wir ohnehin nicht raus. Ich sehe keine genuine Gefahr von Robotern oder autonomen Systemen. Autopiloten gibt es bei Flugzeugen ja zum Beispiel schon lange, aber ihnen wird nicht blind vertraut. Ihre Risiken werden reflektiert und man kann mit ihnen umgehen. Wenn das bei autonomen Fahrzeugen ähnlich verläuft, ist die Reflektion und Korrektur der autonomen Systeme gegeben. Man sollte die Gesellschaft nicht so unterschätzen. Es ist eine neue Kulturtechnik, die wir kennenlernen müssen. Da gibt es Gefahren und auch Risiken. Aber solange wir sie reflektieren und Regeln für ihre Anwendung finden, werden wir der Gefahr meiner Meinung nach souverän begegnen können.  

Herzlichen Dank für das Gespräch!

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