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Forschungsmobilaut: Auf der Pegida-Demo

Forschungsmobilaut: Auf der Pegida-Demo

Der statische Auftrieb von heißer Luft. AFD-Verteter im Bundestag, auf der Frankfurter Buchmesse und in der Elefantenrunde. Pegida-"Spaziergänge" in Dresden. Zeit für den Forschungsmobilauten, eine neue Reise anzutreten und eine Bewegung zu erkunden, die Wirbel macht und dabei viel Dreck aufwühlt.

Ein Gegenbesuch

Mein Urgroßvater lebte in Rostock. Als älterer Bürger der DDR durfte er ausreisen, um die Familie im Westen zu besuchen. Bei längeren Aufenthalten in Leverkusen betrieb er dabei den folgenden Sport: Mit dem Worten „Ich geh mal eben zur Post“ verließ er das Haus, suchte zielsicher die nächste Kneipe auf und erzählte den Leuten dort so lange, dass er aus dem Osten kam, bis sie ihm aus Mitleid ein Bier ausgaben.     

Auf eine seltsame Art scheint sich dabei das Blatt gewendet zu haben. Zumindest laut Initiative Pegida: Die warnt auf ihrer Facebookseite davor, dass in Dresden bald Zustände herrschen könnten wie im Ruhrgebiet. Aber was meinen sie denn damit? Für einen, der sich in Bochum gerade pudelwohl fühlt, nichts weniger als eine Einladung für einen Gegenbesuch.

Es ist früher Abend. Die Sonne steht tief über dem alten Markt in Dresden. Gerade war ich noch in der Gläsernen Manufaktur und bin durch eine mögliche Zukunft des Automobilverkehrs gestiefelt. Jetzt befinde ich mitten in einem Stellungsspiel entlang einer, in den Boden eingelassenen Metall-Bordüre, dessen Regeln ich nicht ganz verstehe. Auf der einen Seite die Gegendemonstranten des Antifaschistischen Widerstandes, auf der anderen die Pegida-Anhänger und -Funktionäre. Noch sind sie nicht viele. Personen mit weißen Ordner-Binden verweisen auf Stellen am Boden, diskutieren intensiv, feilschen um jeden Zentimeter. In einer Armlänge Abstand stehen sich dann die Oppositionen gegenüber entlang eines zehn Zentimeter breiten Streifens, der fast maximale politische Differenz voneinander trennt und gleichzeitig - zumindest geografisch -  zusammenbringt.  

Am Beginn oder Ende (je nach Perspektive) vom Altmarkt befindet sich eine breite Straße mit regem Fuhrverkehr. Kurz vor 18.30 Uhr (Veranstaltungsbeginn) ist der Markt noch recht leer. Vor einer kleinen Bühne stehen einige Personen, bei denen man aufgrund ihres Äußeren ein Erscheinen zu dieser Zeit und diesem Ort für nicht unwahrscheinlich halten würde. Männer zwischen Dreißig und Vierzig, viele Sonnenbrillen, wenige Haare. Dann erst beginnt der Zaubertrick. Aus dem latenten Fußgängerstrom hinter mir nehmen immer mehr Menschen diskret drei Schritte zur Seite und gesellen sich zu der Pegida-Gesellschaft. Damen gehobenen Alters – nicht unschick – , junge Menschen, die aussehen, als hätten sie gerade ihr Abiturzeugnis überreicht bekommen, Männer in Karohemden und kurzen Hosen. Keine greifbare, keine bestimmbare Gruppe. Im Erscheinungsbild sehr heterogen und doch irgendwie indifferent. Passanten eben, meint man, und jetzt stehen sie da.

Stehen da zwischen offenkundigen Pegdia-Anhängern und anderen Menschen, die so etwas wie eine Botschaft loswerden wollen. Letztere haben lange Plakate oder Zettel geschrieben, die sie halten, tragen oder anhaben. Darauf stehen Wörter, die so lose komponiert sind, als hätten sie sich zufällig in der Buchstaben-U-Bahn getroffen. Den Inhalt verstehe ich meistens nicht. Genau wie das Flaggenensemble. Deutschland-Flaggen, Italien-Flaggen, hybride Deutschland/Polen-Flaggen, Flaggen, die ich nicht kenne. Ein Mann trägt Deutschland-Hosenträger und eine Israel-Flagge und streitet sich mit den Antifaschisten. Man weiß nicht recht, ob man bei einer politischen Veranstaltung ist oder einer WM-Eröffnung. Die Gesamtmenge der Gäste lässt von bloßen Visuellen eher letzteres vermuten. Aber dafür ist die Lage zu angespannt: Kleinere Reibereien und Diskussionen an den Seiten, offensichtliche Pregida-Anhänger fotografieren die Gegendemonstranten ab.  

Eine Pärchen steht mit Spiegelreflex-Kamera neben mir und macht Fotos von dem Gesamtbild wie von einem Stadtwahrzeichen.  

„Machen Sie Fotos, weil das etwas ist, wofür man Dresden kennt?“ frage ich.

„Ganz genau!“ sagt der Mann.

Touristen.

Er macht noch ein Foto.

„Aber sowas Plattes hab ich selten gesehen.“ Er deutet auf ein Transparent der Antifaschisten für Menschenwürde und schüttelt den Kopf.

Vielleicht doch keine Touristen.  

Alles ist wahnsinnig schwer zu unterscheiden. In Hollywoodfilmen würde man sagen „Kann mir jemand sagen, was für ein Spiel hier gespielt wird?“ Leider hat diesen Satz noch nie jemand in der Realität gefragt. Und beantwortet schon garnicht.  

Kurz nach halb Sieben beginnt die Veranstaltung mit theatraler klassischer Musik. Nach den Sicherheitshinweisen hebt der ganze Altmarkt ab in eine völlig neue Dimension rhetorischer Grausamkeit. Und damit meine ich nicht nur das Inhaltliche. Sondern auch das Formelle.  

Jemand spricht in Dresden mit einem ur-bayerischen Dialekt. Vages, Unstrukturiertes, Zusammengewürfeltes. Mutmaßungen darüber, welcher Politiker oder welche Politikerin beim Wein saß, telefonierte oder den Hausputz machte, als dies oder das passierte. Ein Verweis auf die Anschläge in „Batzelona“ (sic). Dann eine Schweigeminute für die Opfer der Anschläge in „Baztelona“. Nach zwanzig Sekunden genug Schweigeminute für die Opfer von „Batzelona“. Es ist wirklich schwer zu ertragen. Ein Kiosk-Bier würde hier sicher helfen, aber es herrscht akutes Glasflaschenverbot. Nach einer halben Stunde ist der erste TOP vorbei. Dann wird zum „friedlichen Spaziergang“ aufgerufen – vom Altmarkt eine illustre Runde durch das Viertel.  

Ich habe mich immer im diskreten Halbfeld aufgehalten. Leider überhöre ich ungünstig die Ansangen, in welche Richtung der „Spaziergang“ losgeht. Und ehe ich mich versehe, stehe ich in einer Herde von diesen oft beschriebenen Wut-Bürger*innen. Ich stehe denen zwar ein bisschen im Weg rum, aber generell steht es sich hier nicht gut, da alle aussehen wie der Jedermann. Genau wie ich aussehe wie Jedermann, also alle aussehen wie ich oder ich wie alle und wenn mich jetzt wer hier sieht – das wäre oberdämlich. Ich springe über den Brunnen zu den Gegendemonstranten. Eigentlich habe ich mir vorgenommen, dezidiert neutral zu bleiben und lediglich zu beobachten. Aber wenn der Mob von Rechtspopulisten vorbeirollt, wird man irgendwie zu einer Positionierung gezwungen. Allein schon räumlich.  

Am nächsten Tag werde ich Bertram Weisshaar - einen bedeutenden Spaziergangsforscher - treffen und er wird mir einen Europa-Button schenken.

„Ich glaube es ist gerade an der Zeit, Stellung zu beziehen. Es ist wichtig, dass man als Spaziergänger nicht denen das Feld überlässt, die da in Dresden spazieren“, wird er verschwörerisch sagen.

Über den Altmarkt fliegt ein roter Heizluftballon hinfort ins Ungewisse.

Ich finde es ein starkes Bild für den Abend, selbst wenn ich nicht genau weiß warum.

 

22h48min – Eine Pionierfahrt auf den Spuren des Stillstands

22h48min – Eine Pionierfahrt auf den Spuren des Stillstands

Pionierfahrt: Mobilaut Norbert Krause parkt und bleibt sitzen. 22 Stunden und 48 Minuten lang.

Frage: Und dann?

Ort: 50°56'N, 6°55'O, Venloer Straße, Köln

Datum: 22. September 2017, 14:08 Uhr

Er läuft und läuft und läuft… So erzählt es uns ein Werbespot aus den 60er Jahren über den VW-Käfer. Aber dies ist nur ein Teil der Wahrheit. Hauptsächlich steht er nämlich, ebenso wie alle anderen Autos in Deutschland. Im Schnitt 22 Stunden und 48 Minuten pro Tag. Und hierbei verbraucht das „Fahrzeug“, ganz egal ob Benziner, Diesel oder Elektroauto vor allem eins: Platz. 

Vielleicht ist es an der Zeit sich dieser immensen Zeitspanne zu stellen, nicht den Wagen zu parken um sich im Anschluss den alltäglichen Dinge zu widmen, sondern sitzen zu bleiben und so zu erfahren oder vielmehr zu ersitzen, wie wenig wir unser oft teuerstes Gut nutzen. 

Freitag um 14:08 Uhr, mit achtminütiger Verspätung geht es los. Ich ziehe das erste Parkticket. Die eingeworfenen sechs Euro (Maximalbetrag) erlauben es mir, drei Stunden zu parken. Im Vergleich zu meiner Heimatstadt Mönchengladbach ist das schon ein ordentlicher Preis. Im Vergleich zu jeder Niederländischen (Klein-)Stadt ein Witz. Ab 18 Uhr ist es dann eh vorbei mit dem Bezahlen. Abends parkt man gratis. 

In meinem Wagen bin ich jenseits der sanitären Versorgung, die ich an den auf gleicher Höhe befindlichen Imbiss delegiert habe, autark. Ich habe genug zu trinken und zu essen, ein Notizheft, akkubetriebene Lampen und eine Winterjacke für die Nacht dabei. Und natürlich ein Telefon mit Ersatzakku. 

Ich hätte mit Rückenschmerzen, eingeschlafenen Fußen oder ähnlichen körperlichen Unbehaglichkeiten gerechnet. Aber stattdessen schlägt schon nach wenigen Minuten die Langeweile zu. Der Kontrast zwischen einer vollen Arbeitswoche und der Aussicht auf die nächsten wohl sehr langsam vergehenden 23 Stunden ist hoch. Vielleicht zu hoch. Ich schaue immer wieder auf die Uhr, subtrahiere die vergangene Zeit von der Dauer der Pionierfahrt und lande immer wieder bei ernüchternd langen Zeitspannen. Nach einer Stunde kommt dann endlich mein Geist an. Ich beginne die Zeit im Wagen zu genießen. Es zu genießen, einfach da zu sitzen und das Treiben um mich herum zu beobachten. Später kommt ein junges Pärchen vorbei. Sie haben einen großen Fernseher gekauft und schieben ihn auf einem Kickboard zu seinem neuen Bestimmungsort. Ab Ehrenfeld geht es mit der S-Bahn weiter ans andere Ende von Köln. Anderthalb Stunden brauchen sie für die gesamte Strecke, sagen sie mir. Aber das wäre kein Problem. Sie hätten eine gute Zeit und rumsitzen würden sie dank des neuen TVs eh noch genug. Zu dem Zeitpunkt sitzen wir zu viert im Wagen. Warum definieren wir oft die Dauer einer Reise als verlorene Zeit? Warum haben wir das Gefühl möglichst schnell von A nach B gelangen zu müssen? Auf Google-Maps kann man die Verkehrsmittel gegeneinander antreten lassen. Mönchengladbach – Köln: 56 Minuten mit dem Auto, 51 Minuten mit dem Zug, 154 Minuten mit dem Fahrrad, 546 Minuten zu Fuß. Verliere ich 58 Minuten mit dem Fahrrad gegenüber dem Auto, oder gewinne ich am Ende ein Extra an Lebenszeit und spare mir gleichzeitig die einstündige Laufrunde? Gewinne ich mit dem Zug nicht nur vier Minuten, sondern kann sogar früher Feierabend machen, da ich nicht noch ein Auto von meinem Gehalt finanzieren muss? Wie wohl der Mobilitätsalgorithmus aussähe, käme es ihm nicht lediglich darauf an, eine Distanz zu überwinden sondern uns ein gute Leben zu bereiten? 

Sehr viele Stunden später werde ich gefragt, ob ich nicht das Gefühl hätte, meine Zeit zu verschwenden. Eigentlich nicht, antworte ich und sitze weiter bis zum Ende meiner Reise. 

Geräusch. Klang. Lärm.

Geräusch. Klang. Lärm.

Testfahrt: Mobilaut Norbert Krause befasst sich mit etwas, das ihm bisher völlig egal war. Dem Klang eines Autos. 

Frage: Oder ist es Lärm?

Ort: 51°13'N, 6°29'O, Flughafenstraße, Mönchengladbach

Datum: 04. September 2017, 21:35 Uhr

Geräusch. Klang. Lärm. Irgendwo im Dickicht zwischen diesen Begriffen liegt das Sujet dieser Pionierfahrt versteckt. Unsere Beziehung zu den uns umgebenen Geräuschen ist ambivalent. Wir genießen die Ruhe des Waldes, aber sprechen vom Klang einer Stadt und ziehen den Lärm der Metropolen als Beweis ihrer Lebendigkeit heran. Der Autoverkäufer preist uns den potenten Sound unseres neuen KFZs an, aber die Anwohner der Hauptstraße würden ihn dafür auf direktem Wege in die Hölle der Schlaflosigkeit schicken. Ist das E-Auto unsere Rettung? Ich erinnere mich an ein Gefährt in einer Stadt am Niederrhein. Es wird zum Leeren der Mülleimer in einer Fußgängerzone eingesetzt und piept ununterbrochen, damit kein Fußgänger ihm vor den Latz läuft. Dann doch lieber das sanfte Surren eines Verbrenners?

Ich entscheide mich erst einmal genau zuzuhören. Nachts, am nicht besonders aktiven Mönchengladbacher Flughafen. Das Mikrophon wird zum Mikroskop und sucht die unterschiedlichen Teile des KFZs ab. Vorne, hinten, mittendrin. Ich speichere die herausdestillierten Geräuschfragmente, fahre nach Hause und lege mich bei geschlossenem Fenster schlafen.  

Zwischen Camus und Kiesel – Ein Harzkrimi

Zwischen Camus und Kiesel – Ein Harzkrimi

In unserem MobilitätsLab wollen wir ja nicht nur zur physischen Fortbewegung forschen, sondern vor allem versuchen, eine Reise außerhalb der Filterblase zu unternehmen. Was ist das eigentlich, geistige Beweglichkeit? Der Forschungsmobilaut und seine vierte Mission: auf der Suche nach dem Brocken-Benno...

Frage: Jagd oder Beute?

Ziel: 51°47′57″N , 10°36′56″O, Brocken, Harz

Datum: 25.-26. August 2017 

Aus den Reisenotizen von Jens Eike Krüger 

Es erscheint wohl so, dass man gegenwärtig als junger Mitteleuropäer oder junge Mitteleuropäerin vermutlich mehr Möglichkeiten hat, sein Leben zu gestalten, als die meisten Menschen, die vor uns diesen Planeten bevölkert haben. Dabei versuchen viele sehr ambitioniert, ihr Leben individuell zu leben, dass die Suche nach dem wirklich passenden Job, Partner oder Partnerin und Lebensumfeld schon fast zur Frustration wird. In diesem Kontext stellt sich die Frage, ob man im Zug der Zufriedenheit nicht wieder eine Reduktion seiner Ziele vornehmen sollte. Zum Beispiel wie Sisyphos jeden Tag einen Stein den Berg hinauf zu rollen. 

„Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen“, hieß es in Albert Camus´ „Der Mythos des Sisyphos“.  

Für meine vierte Mission wollte ich jemanden finden, der genau diesen Mythos empirisch überprüft. Benno Schmidt, alias Brocken-Benno, läuft seit vielen Jahren fast jeden Tag den Brocken, den höchsten Berg Norddeutschlands, rauf und runter. Auf seiner Internetseite heißt es, man brauche keinen Termin mit ihm vereinbaren, da man ihn eh am Brocken findet.

Also habe ich versucht, ihn zu finden. Oder besser: zu jagen. Wobei der Weg auf den Brocken selber schon eine Geschichte ist, die es zu erzählen gilt. „Die Jagt ist wichtiger als die Beute“, heißt es bei HP Baxter... 

Freitagabend, 25. August 2017 

Nach einer Besprechung in Hannover erreiche ich abends Wernigerode. Der Brocken-Benno gibt an, fast jeden Tag zwischen 11 und 12 auf dem Brocken zu sein. Wie ich aus zahllosen Reinhold-Messner-Dokumentationen weiß, ist ein gutes Basiscamp das A und O für die Besteigung eines Gipfels. Meines ist eine originale Harzer Familienpension.

In einer Gasse finde ich die Herberge. Die Tür ist zu. Ich klingle. Es dauert zwei Minuten. Dann erscheint eine Frau mit weißen Haaren in weißer Robe. Ich bekomme meine Stube zugewiesen.

Ich will den Scherz machen „Nach WLan brauche ich hier gar nicht erst fragen“, als ich einchecke. Vergesse das aber. Ist auch besser. Auf meiner Stube hängen alle wichtigen Infos aus: Telefonnummern, Frühstückszeit, WLan-Passwort.  

Zunächst das Wetter für den Aufstieg checken. Ich habe meine Wanderstiefel gerade noch eingecremt und geölt, da trifft mich der Schock: Am Morgen Gewitter, gefolgt von Gewitter und danach - Gewitter. Ich hab doch extra immer Teller leer gegessen und jetz das. „Der Brocken ist dann sicher gesperrt“, denke ich. Soll ich trotzdem den Aufstieg versuchen? Ich sehe schon die Schlagzeile „Spaziergangsprofi amateurhaft von Blitz erschlagen“. Das wäre nicht gut. Ok – erstmal schlafen. Morgen sehen wir weiter. Die Touristeninforation kann mir sicher sagen, ob sich ein Aufstieg realisieren lässt.

Samstagmorgen, 26. August  

Ich bin um sieben wach. Um acht schaufele ich mir das Frühstück rein. Die Uhr läuft: Auf den Brocken brauche ich sicher drei Stunden Fußweg. Es ist jetzt eigentlich schon knapp. Also schnell zur Touristeninformation, Wetterlage klären, dann los. Um neun stehe ich vor der Touristeninfo. Die macht um zehn auf. Das wäre Brocken-Benno T -2 Stunden. Das ist zu knapp. Ich bin ja keine Gazelle oder ein Yeti. Einzige Chance: Zum Bahnhof, dort die Schmalspurbahn auf den Brocken nehmen und hoffen, dass Benno dort ist. Ich laufe zum Bahnhof. Ich sehe schon von weitem weißen Rauch aufsteigen. Nein – kein neuer Papst, aber eine neue Chance. Zum Glück habe ich den Plan für die Bahn von der lieben Herbergsmutter zugesteckt bekommen. Es ist 9.30 Uhr. Die Bahn fährt um 9.40 Uhr. Zum Bahnhof hetzten. Wo kauft man ein Ticket für diesen Zug? Sicher nicht am DB-Schalter. 9.35 Uhr – verdammt! Dann sehe ich den Ticketverkauft. Ich presche rein. 9.37 Uhr. „Was kostet ein Ticket für die Auffahrt?“ Es sind 27 Euro. Bitte was?!? Aber naja – es ist ja auch eine Kohlebahn und so weiter... In meinem Portemonnaie sind ungelogen 27,40 Euro und ein paar Plektren. Geld auf den Schalter, Ticket nehmen, zur Bahn rennen, Beweisbild machen, einsteigen, hinsetzten. Eine Minute später fährt die Bahn ab. Durchatmen.  

Eine Stunde dreißig dauert die Fahrt. Mit viel Rumps und Herz heizen uns die beiden Heizer Richtung Brocken-Benno. Wenn er dann auch da ist. Ich habe kein Geld mehr und fahre auf einen Berg, auf dem es vermutlich gewittern wird und der Abstieg drei Stunden dauert. Der Proviant ist natürlich auch spärlich. Wenn dieses Treffen klappt , ist das Ende von „Schlaflos in Seattle“ ein Kindergeburtstag zu dem Mutter Einladungen in Comic Sans gestaltet hat.  

Die Bahn brettert durch einen der urigsten Wälder, die ich je gesehen habe. Ich fahre ungefähr durch jedes Gemälde, dass in meiner favorisierten Flohmarkthalle in Bochum hängt.

Mit dem Mobilitätslab wollen wir ja nicht nur zur physischen Fortbewegung forschen, sondern vor allem versuchen, eine geistige Reise außerhalb der Filterblase zu unternehmen. Jetzt bin ich mit einem Rudel-Harztourist*innen in einer Kohlebahn. Die Bahn hält auf offener Strecke.  

„Wir sind in einen Stau geraten!“ prustet eine Frau mit Prosecco in der Hand. Die Stimmung im Wagon ist ausgezeichnet. Auf der offenen Plattform zwischen den Wagons ist die Reise noch besser. Brocken und Bäume rauschen vorbei. Die 40 KmH, die die Bahn vielleicht fährt, fühlen sich an wie 180. Ich fasse in meine Haare und finde kleine schwarze Körner. Hab ich mich nicht gewaschen? Ich zerdrücke sie: Es ist Kohle. Kohle, die ich mit meinem Kopf im vierten Wagon hinter der Bahn einfange. Fantastisch. Kohlepartikel – der Sand der Harzgebirges.  

Es ist kurz nach elf als ich den Gipfel des Brockens erreiche. Ich haste nach oben. Schaue. Bange.  

Radfahrer*innen und Wanderer*innen noch und nöcher.  

Brocken-Benno: Fehlanzeige.  

Auf einem Zaunpfahl komme ich zur Rast. Ohne Plan, ohne Geld, ohne Benno.  

Wir haben im Mobilautenteam vorher darüber gesprochen, dass die Mission natürlich scheitern könnte. Und was dann passiert. Ich lege mir die Sätze zurecht, wie ich gut erklären kann, wie Jens Eike Krüger als Hitman gescheitert ist. Starre in die Leere. Eine Menschentraube passiert mich. In ihr, ein Mann mit großer Brille und langem Wanderstock, der in alle Richtungen geschwenkt wird. Also der Stock – nicht der Mann.  

Benno.  

Fotos habe ich von ihm gesehen und Videos. Es läuft mir kalt den Rücken runter.  

Er erklärt seiner Wandertruppe etwas. Dann verschwinden alle zusammen in einem Gebäude. Benno führt sie an und spricht energisch. Da will ich nicht stören. Aber ich muss, wenn ich mit ihm sprechen will. Nachher steigen sie ab und alles war für die Katz. Wie bleibe ich höflich und dennoch bestimmt und verwickele ihn in ein Gespräch? Bei sowas war ich immer schlecht.  

Doch plötzlich läuft der Brocken-Benno alleine über das Plateau.  

„Hallo lieber Brocken-Benno!“ rufe ich.  

Unsere Blicke treffen sich.

„Ach du bist´s!“ ruft Brocken-Benno zurück. „Schön dich wieder hier zu sehen. Wo kommst du nochmal her?“  

Ich schwöre auf meine Mutter, dass ich noch nie im Harz war. Nicht in den letzten 15 Jahren.  

Über unser Gespräch möchte ich, genau wie damals über die Fahrt mit dem Paternoster, im Weiteren schweigen. Ein Austausch von einem, der schon viel gelaufen ist und einem, der noch viel zu laufen hat. Aber den Brocken-Benno muss schon jeder und jede für sich selber jagen. Dass die Jagt wichtiger ist als die Beute, würde ich nicht unbedingt sagen: aber sie ist auch wichtig. 

„The chase is better than the catch“. Oh, HP Baxter – du alter Poet...

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