Wer kontrolliert den Algorithmus?
Wer kontrolliert den Algorithmus?
Forschungsmobilaut Krüger setzt seine Reise fort und trifft Dr. Peter Burggräf, Oberingenieur an der RWTH Aachen und beteiligt an der Entwicklung des Future Trains. Ein Gespräch über Algorithmen, Gerechtigkeit und den Blick über den Tellerrand gesprengter Filterblasen...
Frage: Wie wird der öffentliche Nah- und Fernverkehr in der Zukunft aussehen?
Ziel: 50°47′N,6°5′O, Werkzeugmaschinenlabor WZL der RWTH Aachen, Manfred-Weck-Haus
Datum: 14. August 2017
Aus den Notizen von Jens Eike Krüger
Auf Mission Nummer drei geht es darum, den Blick in die Zukunft einfach zu delegieren. Oder den Fortschritt jemand anderen machen zu lassen. In der stetig nach vorne gerichteten Gesellschaft liegt das eigentliche Potential zur Entspannung ja darin zu wissen, dass es vorangeht – auch wenn man gerade nichts tut.
Im Buddhismus hat man dieses Konzept in der Gebetsmühle festgehalten. Man dreht an ihr und es wird für einen Gebetet. In Neo-Buddhistischer Extase hat sich in den letzten Monaten der Fidget-Spinner durchgesetzt, an den man die Dynamik des Lebens delegieren kann. Ratsch, Ratsch, das Rad der Zeit dreht sich und man kann selber einen Moment abschalten. Um an dieser Stelle der Forschung anzusetzen, ist Aachen der ideale Standort. Ich habe das Kneipenviertel dort um die Pontstraße immer sehr gemocht, weil es praktisch in den Campus der RWTH Aachen gebaut ist. Und wenn man sich nachts von manch einem frechen Getränk gesteuert in eine Nebenstraße verirrt, sieht man, dass in einem Raum der Unigebäude noch Licht brennt. Es surrt, eine große Maschine läuft, ein Doktorand hält ihr die Bettwache und man weiß: Es geht voran! Man hebt das Wegbier und sagt: „Danke lieber Unbekannter. Auf den Fortschritt!“ und geht (nun etwas entspannter) seines Weges. Aachen ist der größte Fidget-Spinner, den ich kenne.
Zugegeben etwas abseits des Bermudareiecks erwartet mich Herr Dr. Burggräf, der sich mit mir trifft, um die Kristallkugel anzuwerfen und in die Zukunft der Mobilität zu schauen. Wobei unser Treffpunkt, das Manfred-Weck-Haus, maximal unmagisch ist: Der gesamte Neubau ist um eine Art überdachtes Atrium angelegt. Darin steht eine Menge großer Maschinen und sitzen einige jungen Menschen. Beide scheinen sich miteinander zu beschäftigen.
Da Herr Dr. Peter Burggräf von der RWTH Aachen als Oberingenieur tituliert wird, erwarte ich einen grauhaarigen Mann in Nadelstreifenanzug. Oder einen kosmischen Superhelden. Burggräf ist nichts von beiden. Er ist jung, vielleicht Anfang vierzig, vier Kinder. Er forscht am Future Train. Also verspreche ich mir von dem Gespräch mit Herrn Dr. Burggräf viel.
„Die Bahnbranche ist eine relativ statische Branche“ enttäuscht mich Burggräf. „Sowohl auf Seiten der Hersteller als auch auf Seiten der Betreibenden ist da wenig Platz für Innovation. Zum einen weil die Hersteller an den gebauten Bahnen sehr wenig verdienen. Zum anderen weil das System einer Bahn sehr aufwendig zu erhalten ist. Da ist wenig Raum für neue Ideen. Mit dem Projekt Future Train wollen wir erforschen, wie die Bahn der Zukunft aussehen und produziert werden könnte.“
Notwendig sei das, weil in naher Zukunft selbstfahrende Autos den Markt für den Nah- und Fernverkehr bestimmen würden. Für die Bürger*innen würde sich also die Frage stellen: Warum soll ich einen Zug von Bahnhof zu Bahnhof nehmen, wenn mich ein selbstfahrendes Auto bequemer von Haustür zu Haustür bringt?
Außerdem werden Züge und Bahnen in der Regel wie vor 30 Jahren produziert. Die Arbeiter*innen schrauben die Wagons aus kleinen Teilen mühsam und zeitaufwendig zusammen: kein Produktionsverfahren für das 21. Jahrhundert.
Ich persönlich hatte gedacht, dass die Zukunft ganz dem öffentlichen Nah- und Fernverkehr gehört. Überall Bahnen: Fernbahnen, Schwebebahnen, U-Bahnen, Seilbahnen (man denke an Wuppertal). Aber Burggräf sieht das skeptisch. „Die Technologien für selbstfahrende Autos sind schon da. Der Bahnverkehrt hat heute immer noch das sogenannte Problem der letzten Meile: Ein Ticket von Berlin nach Stuttgart kostet 80 Euro und das Taxi, um in Stuttgart dort hinzukommen, wo ich hinmöchte, dann vielleicht noch mal 30,- Euro. Das steht nicht im Verhältnis.“
Aber wie kann er aussehen: der Zugverkehr der Zukunft? Auf jeden Fall müsste er dynamischer werden, so Burggräf, und sich an die Kund*innen anpassen. Man geht zum Beispiel an einen Bahnhof. Dort gibt man per App seinen Reisewunsch ab. Dann bekommt man einen speziellen Wagon zugewiesen. Dieser fährt selbstständig auf einer Route, die in Echtzeit berechnet wird und so auf die Reiseziele der Gäste und das Verkehrsaufkommen reagiert.
Selbstfahrend und autonom scheint er also zu sein, der Verkehr der Zukunft. Dabei stellen sich natürlich einige Fragen. Mir kommt sofort moralische Dilemma mit der alten Dame und dem Kind in den Sinn. Ein Auto wird von einem Algorithmus gesteuert: In einer Extremsituation muss es ausweichen und kann dabei entweder auf eine alte Frau oder ein Kind zusteuern. Wie soll hier gehandelt werden? Erkennt das Fahrzeug den Unterschied zwischen beiden Personen?
„Diese Frage wird häufig angeführt, ist aber vielleicht nicht die relevanteste“ meint Burggräf. „Denn insgesamt ist die autonome Fahrtechnologie wesentlich sicherer. Die allermeisten Unfälle werden durch persönliche Fahrfehler oder Alkohol am Steuer verursacht. Wenn wir das in Zukunft ausschließen können, dann ist dieses philosophische Beispiel ein schlechter Grund, die Technik nicht einzuführen.“
Gefahren für die Zukunft der Mobilität sieht Burggräf eher woanders. Denn in der Zukunft wird die Zahl der Reisenden weiter steigen. Das schädigt natürlich das Klima. Für die Zukunft ist daher ein klimaneutraler Verkehr der Schlüssel. Dabei würde in der Gegenwart sogar über elektronisch betriebene Flugzeuge nachgedacht. Aber selbst wenn es gelingt einen klimaneutralen weltweiten Fern- und Nahverkehr einzurichten sind damit immer noch nicht alle Probleme gelöst.
„Ich bin natürlich kein Soziologe, aber man kann sich vorstellen, dass das in Zukunft Ungleichheiten erzeugt. Wenn die Menschen mit Geld in der Lage sind, die ganze Welt zu bereisen und ärmere Menschen praktisch immer in ihrer Heimatstadt bleiben.“
Diese Fragen nach Gerechtigkeit stellen sich auch im Zusammenhang mit dem von IT-Unternehmen in Zukunft geleiteten Bahn und Autoverkehr. Werden die Menschen mit Geld dann von ihrem Auto auf eine schnelle Autobahn gelenkt? Müssen Menschen mit weniger Kapital den Stau oder die Landstraße in Kauf nehmen, wenn ein Algorithmus die Fahrtrouten bestimmt? Burggräf sieht hier ein Problem, dass sich für viele Branchen stellt:
„Da sind wir bei der Frage: Wer kontrolliert den Algorithmus? Eigentlich bräuchten wir Algorithmen, die die Algorithmen kontrollieren. Momentan sind Software-Lösungen zum Beispiel von Unternehmen wie Apple oder Google noch ein nahezu rechtsfreier Raum.“
Klingt logisch. Aber wo soll hier angesetzt werden? „Man könnte ja mal bei Facebook anfangen. Wie wäre es, wenn man den Algorithmus, der einen Newsfeed generiert, dazu zwingt, zwanzig Prozent der Inhalte von außerhalb der jeweiligen Filterblase zu beziehen?“
Eigentlich ein guter Vorschlag, denke ich, als ich Herr Burggräf nach einer Stunde verlasse.
Am Ende haben wir über vieles gesprochen, nicht nur über Züge. Und ein wenig beunruhigt mich der Gedanke an einen komplett ferngesteuerten Verkehr, den wir vermutlich schon bald nutzen werden. Kann ich dann demnächst kein Auto mehr bestellen, weil ich vielleicht meine GEZ-Gebühren nicht bezahlt habe? Oder fährt mich das Auto ungefragt an die GEZ-Zentrale in Köln, wo ich zur Kasse gebeten werde? Schön, dass mir Herr Burggräf, der nicht nur Oberingenieur, sondern auch ein bisschen ein Philosoph ist, einen Blick in die Zukunft gegeben hat.
Um der eigenen Filterblase zu entkommen und mich ein wenig aus der Schnelligkeit der Stadtzivilisation zu verabschieden, wird meine nächste Mission mich ins Harz führen. Dort will ich Konzepte der Entschleunigung erproben und eine prominente Gestalt suchen, die sich Brocken-Benno nennt.
Aber dazu mehr in einer Woche...