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Wer kontrolliert den Algorithmus?

Wer kontrolliert den Algorithmus?

Forschungsmobilaut Krüger setzt seine Reise fort und trifft Dr. Peter Burggräf, Oberingenieur an der RWTH Aachen und beteiligt an der Entwicklung des Future Trains. Ein Gespräch über Algorithmen, Gerechtigkeit und den Blick über den Tellerrand gesprengter Filterblasen...

Frage: Wie wird der öffentliche Nah- und Fernverkehr in der Zukunft aussehen?

Ziel: 50°47′N,6°5′O, Werkzeugmaschinenlabor WZL der RWTH Aachen, Manfred-Weck-Haus

Datum: 14. August 2017

Aus den Notizen von Jens Eike Krüger

Auf Mission Nummer drei geht es darum, den Blick in die Zukunft einfach zu delegieren. Oder den Fortschritt jemand anderen machen zu lassen. In der stetig nach vorne gerichteten Gesellschaft liegt das eigentliche Potential zur Entspannung ja darin zu wissen, dass es vorangeht – auch wenn man gerade nichts tut.  

Im Buddhismus hat man dieses Konzept in der Gebetsmühle festgehalten. Man dreht an ihr und es wird für einen Gebetet. In Neo-Buddhistischer Extase hat sich in den letzten Monaten der Fidget-Spinner durchgesetzt, an den man die Dynamik des Lebens delegieren kann. Ratsch, Ratsch, das Rad der Zeit dreht sich und man kann selber einen Moment abschalten. Um an dieser Stelle der Forschung anzusetzen, ist Aachen der ideale Standort. Ich habe das Kneipenviertel dort um die Pontstraße immer sehr gemocht, weil es praktisch in den Campus der RWTH Aachen gebaut ist. Und wenn man sich nachts von manch einem frechen Getränk gesteuert in eine Nebenstraße verirrt, sieht man, dass in einem Raum der Unigebäude noch Licht brennt. Es surrt, eine große Maschine läuft, ein Doktorand hält ihr die Bettwache und man weiß: Es geht voran! Man hebt das Wegbier und sagt: „Danke lieber Unbekannter. Auf den Fortschritt!“ und geht (nun etwas entspannter) seines Weges. Aachen ist der größte Fidget-Spinner, den ich kenne.  

Zugegeben etwas abseits des Bermudareiecks erwartet mich Herr Dr. Burggräf, der sich mit mir trifft, um die Kristallkugel anzuwerfen und in die Zukunft der Mobilität zu schauen. Wobei unser Treffpunkt, das Manfred-Weck-Haus, maximal unmagisch ist: Der gesamte Neubau ist um eine Art überdachtes Atrium angelegt. Darin steht eine Menge großer Maschinen und sitzen einige jungen Menschen. Beide scheinen sich miteinander zu beschäftigen.  

Da Herr Dr. Peter Burggräf von der RWTH Aachen als Oberingenieur tituliert wird, erwarte ich einen grauhaarigen Mann in Nadelstreifenanzug. Oder einen kosmischen Superhelden. Burggräf ist nichts von beiden. Er ist jung, vielleicht Anfang vierzig, vier Kinder. Er forscht am Future Train. Also verspreche ich mir von dem Gespräch mit Herrn Dr. Burggräf viel.  

„Die Bahnbranche ist eine relativ statische Branche“ enttäuscht mich Burggräf. „Sowohl auf Seiten der Hersteller als auch auf Seiten der Betreibenden ist da wenig Platz für Innovation. Zum einen weil die Hersteller an den gebauten Bahnen sehr wenig verdienen. Zum anderen weil das System einer Bahn sehr aufwendig zu erhalten ist. Da ist wenig Raum für neue Ideen. Mit dem Projekt Future Train wollen wir erforschen, wie die Bahn der Zukunft aussehen und produziert werden könnte.“  

Notwendig sei das, weil in naher Zukunft selbstfahrende Autos den Markt für den Nah- und Fernverkehr bestimmen würden. Für die Bürger*innen würde sich also die Frage stellen: Warum soll ich einen Zug von Bahnhof zu Bahnhof nehmen, wenn mich ein selbstfahrendes Auto bequemer von Haustür zu Haustür bringt?  

Außerdem werden Züge und Bahnen in der Regel wie vor 30 Jahren produziert. Die Arbeiter*innen schrauben die Wagons aus kleinen Teilen mühsam und zeitaufwendig zusammen: kein Produktionsverfahren für das 21. Jahrhundert.  

Ich persönlich hatte gedacht, dass die Zukunft ganz dem öffentlichen Nah- und Fernverkehr gehört. Überall Bahnen: Fernbahnen, Schwebebahnen, U-Bahnen, Seilbahnen (man denke an Wuppertal). Aber Burggräf sieht das skeptisch. „Die Technologien für selbstfahrende Autos sind schon da. Der Bahnverkehrt hat heute immer noch das sogenannte Problem der letzten Meile: Ein Ticket von Berlin nach Stuttgart kostet 80 Euro und das Taxi, um in Stuttgart dort hinzukommen, wo ich hinmöchte, dann vielleicht noch mal 30,- Euro. Das steht nicht im Verhältnis.“  

Aber wie kann er aussehen: der Zugverkehr der Zukunft? Auf jeden Fall müsste er dynamischer werden, so Burggräf, und sich an die Kund*innen anpassen. Man geht zum Beispiel an einen Bahnhof. Dort gibt man per App seinen Reisewunsch ab. Dann bekommt man einen speziellen Wagon zugewiesen. Dieser fährt selbstständig auf einer Route, die in Echtzeit berechnet wird und so auf die Reiseziele der Gäste und das Verkehrsaufkommen reagiert.  

Selbstfahrend und autonom scheint er also zu sein, der Verkehr der Zukunft. Dabei stellen sich natürlich einige Fragen. Mir kommt sofort moralische Dilemma mit der alten Dame und dem Kind in den Sinn. Ein Auto wird von einem Algorithmus gesteuert: In einer Extremsituation muss es ausweichen und kann dabei entweder auf eine alte Frau oder ein Kind zusteuern. Wie soll hier gehandelt werden? Erkennt das Fahrzeug den Unterschied zwischen beiden Personen?  

„Diese Frage wird häufig angeführt, ist aber vielleicht nicht die relevanteste“ meint Burggräf. „Denn insgesamt ist die autonome Fahrtechnologie wesentlich sicherer. Die allermeisten Unfälle werden durch persönliche Fahrfehler oder Alkohol am Steuer verursacht. Wenn wir das in Zukunft ausschließen können, dann ist dieses philosophische Beispiel ein schlechter Grund, die Technik nicht einzuführen.“  

Gefahren für die Zukunft der Mobilität sieht Burggräf eher woanders. Denn in der Zukunft wird die Zahl der Reisenden weiter steigen. Das schädigt natürlich das Klima. Für die Zukunft ist daher ein klimaneutraler Verkehr der Schlüssel. Dabei würde in der Gegenwart sogar über elektronisch betriebene Flugzeuge nachgedacht. Aber selbst wenn es gelingt einen klimaneutralen weltweiten Fern- und Nahverkehr einzurichten sind damit immer noch nicht alle Probleme gelöst.  

„Ich bin natürlich kein Soziologe, aber man kann sich vorstellen, dass das in Zukunft Ungleichheiten erzeugt. Wenn die Menschen mit Geld in der Lage sind, die ganze Welt zu bereisen und ärmere Menschen praktisch immer in ihrer Heimatstadt bleiben.“  

Diese Fragen nach Gerechtigkeit stellen sich auch im Zusammenhang mit dem von IT-Unternehmen in Zukunft geleiteten Bahn und Autoverkehr. Werden die Menschen mit Geld dann von ihrem Auto auf eine schnelle Autobahn gelenkt? Müssen Menschen mit weniger Kapital den Stau oder die Landstraße in Kauf nehmen, wenn ein Algorithmus die Fahrtrouten bestimmt? Burggräf sieht hier ein Problem, dass sich für viele Branchen stellt:  

„Da sind wir bei der Frage: Wer kontrolliert den Algorithmus? Eigentlich bräuchten wir Algorithmen, die die Algorithmen kontrollieren. Momentan sind Software-Lösungen zum Beispiel von Unternehmen wie Apple oder Google noch ein nahezu rechtsfreier Raum.“  

Klingt logisch. Aber wo soll hier angesetzt werden? „Man könnte ja mal bei Facebook anfangen. Wie wäre es, wenn man den Algorithmus, der einen Newsfeed generiert, dazu zwingt, zwanzig Prozent der Inhalte von außerhalb der jeweiligen Filterblase zu beziehen?“  

Eigentlich ein guter Vorschlag, denke ich, als ich Herr Burggräf nach einer Stunde verlasse.  

Am Ende haben wir über vieles gesprochen, nicht nur über Züge. Und ein wenig beunruhigt mich der Gedanke an einen komplett ferngesteuerten Verkehr, den wir vermutlich schon bald nutzen werden. Kann ich dann demnächst kein Auto mehr bestellen, weil ich vielleicht meine GEZ-Gebühren nicht bezahlt habe? Oder fährt mich das Auto ungefragt an die GEZ-Zentrale in Köln, wo ich zur Kasse gebeten werde? Schön, dass mir Herr Burggräf, der nicht nur Oberingenieur, sondern auch ein bisschen ein Philosoph ist, einen Blick in die Zukunft gegeben hat.  

Um der eigenen Filterblase zu entkommen und mich ein wenig aus der Schnelligkeit der Stadtzivilisation zu verabschieden, wird meine nächste Mission mich ins Harz führen. Dort will ich Konzepte der Entschleunigung erproben und eine prominente Gestalt suchen, die sich Brocken-Benno nennt.  

Aber dazu mehr in einer Woche...   

Erforschung des Westens: Zwischen Seilbahn und autofreier Innenstadt

Erforschung des Westens: Zwischen Seilbahn und autofreier Innenstadt

Um zu sehen, wie sich die Städte in der Zukunft in Hinblick auf Mobilität entwickeln können, ist unser Forschungsmobilaut nach Wuppertal gereist und hat den Oberbürgermeister Andreas Mucke in ein Gespräch verwickelt.

Frage: Wie bewegt man sich in der Stadt der Zukunft?

Ziel: 51°16′N , 7°13′ O, Rathaus, Wuppertal

Datum: 09. August 2017

Aus den Notizen von Jens Eike Krüger 

Es ist unbestreitbar, dass wir uns durch unsere lineare Reise durch die Zeit nach vorne auf eine Realität zu bewegen, die sich jetzt noch als Zukunft bezeichnet, in Kürze die Gegenwart und langfristig schon wieder die Vergangenheit sein wird.  

Dabei ist die Dynamik, mit der dies geschieht, natürlich für jedes einzelne Objekt eine andere. Während sich der Mount Everest um vier Millimeter im Jahr erhöht und somit auf seinen historischen Höchststand hinarbeitet (was wohl einige Zeit dauern dürfte), überführt sich der Joghurt, den ich letzte Woche auf der Terrasse vergessen habe, sehr schnell in einen Zustand, den ich als zukünftiges Potential und letztendlich auch schnell als dessen Vergehen und Vergangenheit titulieren würde.  

Was die Veränderung von Städten angeht, sollte man sie in der Geschwindigkeit vermutlich irgendwo in der Mitte zwischen Bergmassiv und Magermilchjoghurt verorten: Man kann die Veränderungen nicht direkt live beobachten, aber dennoch gibt es immer diesen „Nanu!?“-Effekt, wenn man mal wieder nach zwei Jahren die periphere Verwandtschaft in Ostende besucht. „Das hat aber letztes Jahr hier noch nicht gestanden!“. 

Um zu sehen, wie sich die Städte in der Zukunft in Hinblick auf Mobilität entwickeln, bin ich nach Wuppertal gereist: Hier wird mit Initiativen wie „Wuppertal 2025“ zusammen mit den Bürger*innen intensiv darüber nach gedacht, welches Vehikel einen in und durch die Zukunft katapultiert. 

In Barmen angekommen, widerstehe ich kurz der Versuchung, direkt in die Schwebebahn zu hopsen, denn ich habe einen Termin: Oberbürgermeister Andreas Mucke ist so lieb und erklärt mir, was Wuppertal vielleicht morgen schon bewegen wird. Da will man nicht zu spät kommen.  

Im Rathaus stoße ich direkt auf eine der Attraktionen des Gebäudes: der Paternoster. Da Herr Mucke mich im ersten Stock erwartet, kann ich den wohl nehmen. Hab ich aber noch nie benutzt, so ein Ding.  

Ich forme ein Kreuz auf der Brust und mache einen Schritt. „Ich setzte den Fuß in die Luft und sie trug“, heißt es bei Hilde Domin. Jetzt weiß ich, was sie meint. Nachdem mein Fuß einige Zeit in der Luft baumelt, findet er den notwendigen Lift-Boden. So oder umgekehrt. Der Paternoster ist auf jeden Fall ein Vehikel, an das man erstmal glauben muss. Ich scheine die erste Prüfung bestanden zu haben und werde fromm in den ersten Stock ge – eh – hoben? Getragen? Gekurbelt? Geliftet? Gepaternostert? 

Wie das wohl ist, jeden Tag mit so einem Gefährt unterwegs zu sein? Die Frage kann mir Oberbürgermeister Andreas Mucke nicht beantworten, er nimmt nämlich jeden Tag die Treppe. „Da bleibt man fit“, erklärt er. „Außerdem sind jeden Tag so viele Leute um einen rum. Da ist man froh, wenn man mal alleine ist. Auf der Treppe, im Bus oder in der Schwebebahn.“  

Als professioneller Spaziergänger in spe kann ich das mit dem Treppenlaufen natürlich nachvollziehen. Aber eigentlich soll sich unser Gespräch ja um Wuppertal 2025 drehen. Das Stadtentwickelungsprojekt wurde 2013 auf den Weg gebracht, um gemeinsam mit den Bürgerinnen und Bürgern darüber nachzudenken, wie es denn sein soll, das Wuppertal der Zukunft. Daraus hervorgegangen sind 13 Schlüsselprojekte. Darunter die Renaturierung der Wupper, eine Boulderhalle im früheren „Gold-Zack“-Gebäude und – eine Seilbahn.  

„Eine Seilbahn?“ fragt man da, weil man die Schwebebahn schon in Wuppertal weiß und sich fragt, was dann als nächstes kommen soll: Drohnen-Taxis? Die gäbe es zwar jetzt bereits in Dubai, erklärt Mucke, für Wuppertal sei aber zunächst die Seilbahn passender. „Wir haben 20.000 Studierende an der Univeristät Wuppertal, die wir mit Bussen kaum vom Bahnhof auf den Grifflenberg, den Standort der Uni, bekommen.“ Eine Seilbahn sei da das Richtige.  

Die Vorteile: Eine Seilbahn belastet den Verkehr nicht, kostet im Bau nur etwa zehn bis zwanzig Prozent von den Kosten einer vergleichbaren U-Bahn, kann mit Ökostrom betrieben werden, produziert keinen Smog und ist barrierefrei.  

„Toll“, denke ich, und stelle mir vor, wie im Zukunft alle Städte von einem Netz von Seilbahnen durchzogen sind und die Menschen von A nach B damit – eh – fahren? Gleiten? Schweben?

Dann sähen die Metropolen von morgen aus wie das Cover von einem Perry-Rhodan-Roman. Eigentlich ist das in Wuppertal mit der Schwebebahn natürlich jetzt schon so.  

„Wir sind hier natürlich sehr stolz auf unsere Schwebebahn“, so Mucke. „Ein Kollege sagte mal: Bei euch ist das ja wie Retro-Science-Fiction. So wie in Metropolis von Fritz Lang. Das fand ich eigentlich ganz passend.“ Und in Metropolis darf man natürlich auch mal gehörig die Fantasie anwerfen. Wenn also die Schwebebahn das Transportmittel 1.0 ist, die Seilbahn 2.0, was ist dann 2050 das Transportmittel 3.0?  

„Das Fahrrad“ sagt Mucke. Ich hätte mir natürlich jetzt das Drohnen-Taxi gewünscht, lasse mich aber auch fürs Fahrrad begeistern. „Derzeit legen die Wuppertaler drei Prozent ihrer Strecken mit dem Fahrrad zurück. Wenn wir das auf zehn Prozent erhöhen könnten, wäre das sehr gut. Der Bau der Nordbahntrasse ist schon ein Schritt in diese Richtung.“  

Dabei seien die Maßnahmen, die die Stadt Wuppertal derzeit in Sachen Mobilität der Zukunft unternimmt, noch sehr greifbar. Am Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie würde man an noch avantgarderen Strategien arbeiten, erfahre ich. Zum Beispiel autofreie Innenstädte. Aber was macht man dann aus den ganzen Straßen? „Fußgängerzonen zum Beispiel“, meint Mucke, „da könnten dann Kinder spielen. Ich habe früher auch Fußball in den Straßen gespielt. Aber für solche Ideen müssen sie erstmal die Öffentlichkeit hinter sich bringen. Die Leute müssen wissen, dass sie weiter dahin kommen, wohin sie wollen.  

Meine Zeit mit Andreas Mucke neigt sich dem Ende entgegen. Zum Abschied noch ein Foto mit dem Mobillauten. Direkt am Ideenbaum. Auf dem Kunstwerk durften Bürgerinnen und Bürger ihre Ideen für eine bessere Stadt formulieren. Ich greife nach einem Zettel: „Für weniger Hundekacke in den Straßen“, steht da. Manchmal bestechen gute Wünsche durch ihre Banalität.  

Nachdem ich Mucke verlasse, will ich noch einmal zum Paternoster zurück. Der Oberbürgermeister hat mir versichert, dass die Benutzung komplett ungefährlich ist. Man könne sich da nichts einklemmen UND man könnte sogar eine ganze Runde darin fahren. Dass muss ich noch schnell testen, bevor es heimgeht. Denn die große Frage ist ja: Wird man am Ende des Paternosters auf den Kopf gedreht und kommt rückwärts wieder nach unten? Oder wird man vielleicht doch oben einfach zerquetscht?  

Ich werfe die Stoppuhr an. Zwei Minuten und 55 Sekunden später bin ich genau eine Runde gefahren und wieder im ersten Stock. Was dazwischen passiert ist? Engelszeugen haben zu mir gesprochen, das Universum hat sich vor mir ausgerollt und ich habe in den Quellcode allen Seins gesehen. Ein Mann, der eine Runde durch vier Stockwerke genostert wurde, der ist für alles bereit. Bereit für jedes Vehikel, jedes Terrain und jede Himmelsrichtung.

Gut so, denn nächste Woche geht es nach Aachen und ich bin sehr gespannt, was mich dort in der westlichsten Großstadt Deutschlands erwarten wird.

 

 

Erforschung des Westens: Ein Geschwindigkeitsversuch

Erforschung des Westens: Ein Geschwindigkeitsversuch

Unser Forschungsmobilaut ist losgezogen, auf seine Mission. Die nächsten zwei Monate wird er unterwegs sein, im ganzen Land. Im Geschwindigkeitsrausch erkundet er in seinem ersten Versuch die Metropolregion NRW, getrieben von der Frage, wie schnell ein einzelner Mobilaut eigentlich sein kann - und was Mobilität im Kern ausmacht.

Versuch: In weniger als 4 Stunden 10 Städte mit jeweils über 30.000 Einwohnern in NRW bereisen

Start und Ziel: 51°29′ N , 7°13′ O, Oskar-Hoffmann-Straße, Bochum

Zeit: 02. August 2017, 11:00–14:59 Uhr 

Aus den Notizen von Jens Eike Krüger 

Um 1100 (Militärische Zeitangabe) wird der erste Versuch im Rahmen meiner Pionierfahrt starten. Ich möchte sehen, wie schnell ich mit öffentlichen Verkehrsmitteln zehn Städte mit jeweils über 30.000 Einwohnern besuchen kann. Und besuchen heißt nicht: aus dem Zug springen und wieder rein hüpfen. Man braucht einen Aufenthalt. Mindestens eine Minute. Denn der Mobillaut startet nun auf seine Sichtungsreise. Das heißt: Er sieht und wird gesehen. Heute quasi überall im Ruhrgebiet oder so ähnlich, die genaue Strecke kenne ich ja noch nicht. Dabei versuche ich, schnell zu sein – sehr schnell. Am besten ich schicke noch eine E-Mail an mich selbst. Wenn ich gut bin, habe ich die Aufgabe erledigt, bevor die E-Mail wieder bei mir eintrifft. Zudem weiß ich dann, dass ich mich immer noch im gleichen Dimension befinde und nicht versehentlich bei meinem Tempo die Realität durchbrochen habe und in eine andere gewechselt bin.

11:00 Uhr Tipp, tipp, tipp: E-Mail ist raus. Ab in den Mobilautenanzug, dann geht es los. Leider noch ein bisschen rauen Hals von der Erkältung vor zwei Wochen. „Husten: wir haben ein Problem!“. Dagegen noch einen Schluck Kaffee (nichts auf den neuen weißen Anzug schütten) und dabei die Karte studieren. Druckausgleich, durch die Schmutz-Schleuse, Treppenhaus und raus.

11:08 Uhr Ich verlasse die Oskar-Hoffmann-Straße in Bochum und gehe schnellstmöglich zum Bahnhof. Dort prüfe ich die große Anzeigetafel. Der nächste Zug geht nach Witten. Genau um 11:21 auf Gleis 5. Gut, Witten also. Von dort aus könnte ich vielleicht gleich nach Wetter weiterfahren. Aber Recherchen während der Zugfahrt sagen mir: Halt! Wetter verpasst um 2178 EinwohnerInnen die 30.000 Einwohnergrenze. Dann muss es anders gehen. Aber erstmal in Witten ankommen.

11:39 Uhr Der Mobillaut wird in Witten gesichtet.

11:55 Uhr Andere sichten einen Mobilauten in Dortmund

12:17 Uhr Moment – das muss er sein: verdächtige rote Schuhe in Castrop Rauxel

12:21 Uhr Zeit für eine kleine Erfrischung. Das multiple Erscheinen klappt an sich sehr gut, ist aber auch sehr anstrengend. Zum Glück habe ich einige Rationen Mobilautenkost dabei. Diese wird tatsächlich auf einem anderen Planeten hergestellt, wie man an der Aufmachung erkennen kann. Schmeckt aber auch Menschen. Leider schaffe ich es nicht die Verpackung fachgerecht zu entsorgen, da ich mich unerwartet verpuffe und circa 8 km weiter in Herne materialisiere.

12:34 Uhr Passanten erkennen mich natürlich sofort.

12:35 Uhr Die Verbindungen sind gecheckt. Besser verstecken, bevor es weitergeht. Habe eh keine Autogrammkarten dabei.

13:01 Uhr Sichtung Wanne Eikel.

13:17 Uhr Vogelkundler entdecken mich in Gelsenkirchen.

13:49 Uhr Panorama Oberhausen. Nur irgendwer steht ungünstig im Bild.

14:07 Uhr Hinter diesen Scheiben befindet sich das wilde Duisburg.

14:21 Uhr Ein Freund hat mir erzählt, dass Handwerker dir anerkennend zunicken, wenn du den öffentlichen Nahverkehr benutzt und einen Blaumann trägst. Klappt es auch bei einem Mobilautenanzug? Bis jetzt leider: nein. Obwohl ich mit strahlend weißen „Onesie“ unterwegs bin, scheinen sich die Leute kaum für mein Outfit zu interessieren. Es wird nicht überrascht geguckt und genickt erst recht nicht.„Ist das deine Arbeitskleidung?“ fragt der Mann gegenüber auf dem Weg nach Essen. „Ja.“ Stimmt ja irgendwie. „Was machst du denn?“. „Lackierer.“ Seit der Grundschule habe ich nicht mehr so dreist gelogen. „Ah ja. Sind aber keine Flecken drauf.“. „Ja. Der ist neu. Zweimal getragen“. Es klappt. Ich kann mich also tarnen, wenn ich möchte. Toll dieser Anzug - sehr vielseitig. Obwohl: ins Gespräch kommen, wäre ja auch was. Nächstes Mal spiele ich mit offenen Karten.

14:33 Uhr Ich bin in Essen. Da ich flott in den nächsten Zug nehme, werde ich kaum gesehen.

14:45 Uhr Ich erreiche Bochum. Jetzt noch schnell zurück zur Wohnung. Immerhin gilt es, die E-Mail noch einzuholen, die schon unterwegs ist.

14:59:31 Uhr Tada! Trautes Heim, Glück allein.

Der Mobilautenanzug hat gehalten, was er verspricht: Er hat mich unbeschadet durch verschiedenste geografische Gefilde geführt und Druck- wie Temperaturunterschiede kompensiert. Kompensiert im Sinne von: Es war immer gleich viel zu warm und feucht darin.

Auswertung: Ich habe es geschafft, in unter vier Stunden von der Haustür aus zehn große Städte in NRW zu besuchen und zurück zu kommen. Bochum, Witten, Dortmund, Castrop-Rauxel, Herne, Wanne-Eikel, Gelsenkirchen, Oberhausen, Duisburg, Essen – Bochum.

Dafür habe ich keinen Tropfen Benzin verbraucht und mich auch kaum selbst bewegt. Zumindest kaum per Fuß. Leider ist die E-Mail um 11:00 eingetroffen und damit knapp drei Stunden und 59 Minuten schneller als ich gewesen, was mich ein wenig ärgert. Mal sehen, welches Fortbewegungsmittel ich bei der nächsten Mission wähle. Zugfahren ist ja eher für Anfänger.

Aber es heißt geduldig und zäh zu sein: Die Leute haben ja auch gesagt, es wäre unmöglich, 100 Meter in unter 10 Sekunden zu laufen. Und jetzt ist es gang und gebe – also zumindest unter schnellen Sprintern und einigen Raubkatzen.

Ich taste mich also langsam durch Erfahrungen an die Geschwindigkeit und dann vielleicht an die Omnipräsenz ran. Vor allem aber an die Frage: Was bedeutet Mobilität?

Erkenntnis 1: Vier Stunden, zehn Städte – an mir vorbeigerauscht und ich an ihnen. Ich war überall und doch nirgends. Körperliche Bewegung allein genügt scheinbar nicht, um den Horizont zu erweitern. Geistige Mobilität könnte der Schlüssel sein. Beim nächsten Mal gebe ich mich zu erkennen. Spannende Gesprächspartner müssen her. Vielleicht komme ich so in neue, entlegene Gebiete des Denkens. 

Fotos: Jens Eike Krüger

Die Bildungsreise: An der Kante des Möglichen

Die Bildungsreise: An der Kante des Möglichen

Aus den Aufzeichnungen von Jens Eike Krüger. Die Idee: Am 2. August werde ich testen, wie schnell ich in NRW von einer Stadt zur nächsten springen kann. Den Fahrplan an der Kante des Möglichen surfen. Zick, Zack, Zapp, Köln, Bochum, Wuppertal. Ein Teilchen, dass an zwei Orten zugleich ist. Ein Photon. Hier – da – überall: ein Hau-den-Maulwurf auf 34.000 Quadratkilometern.  

Alex war ein Jahr in Sambia. Alex sagt, dort gibt es Leute, die sagen: „I don't believe in witchcraft, but I have seen it.“ Worin die Witchcraft dort besteht, frage ich. Alex sagt, man kann Leute verwünschen oder mit Magie um etwas bitten. Besonders mag ich die Geschichte von diesem Mann: Man trifft ihn in Sambia an dem einen Ort, und er sagt, man solle ihn in einer anderen Stadt aufsuchen. Und egal wie schnell man zur anderen Stadt reist, er ist schon dort. Er ist schon dort und hat sich den ganzen Tag nicht bewegt. Also eigentlich ist er hier und da und dort. Gleichzeitig. Das ist Witchcraft.

Für meine erste Expedition möchte ich das Verkehrsnetz der Bahn in NRW testen. 100.000 Personen nutzen allein den RE 1 täglich, sind sozusagen gleichzeitig in Dortmund, Essen und Mülheim und wundern sich, dass die Städte gleich aussehen. „Le Crobac“ verabschiedet sich und spricht: „Fahre nach Düsseldorf, ich werde schon dort sein“. Und dort ist es dann auch schon – egal wie schnell man fährt. Gleiche Brötchen, ähnlicher Verkäufer. „Ah, da sind Sie ja wieder“, sagt er. 

Voodoo oder Kalkül des Kapitalismus? Mir wäre Voodoo ja lieber. 

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