Der BEGINN...
Nach einer turbulenten Bahnfahrt mit sehr vielen Nonnen und einem lautstarken Shantychor raus aus dem Bahnhof, Ticketcodes, Security-Check, Hallen-Shuttle, Halle 4, Treppe rauf, vorbei an Porsche-Oldsmobile, Gin-Tonic-Bar und dann:
N99. Unser Stand, ein offensichtliches Provisorium aus mobilen Kisten. Ich sage den Damen am Stand guten Tag, baue Stoppuhr, Stifte, Schokolade und Karten auf. Brauche ich ein Tablet für unsere Präsentation? Im Laufe des Tages zeigt sich: Niemand will eine Präsentation oder einen Film sehen. Die Besucher wollen mit mir reden. Ganz analog. Sehr gerne!
Es gibt einen Arbeitsplatz mit multimedialen Präsentationen aller Projekte. Sieht lustig aus. Raumschiff Orion. Knopf drücken, Kopfhörer auf, Film geht los. Aber viel genutzt wird diese Station nicht. Das persönliche Gespräch ist und bleibt attraktiver.
Es kommen einige Besucher. Mir ist keine Sekunde langweilig. Die wenigen Momente, in denen ich nicht mit Besuchern spreche, versuche ich, die anderen Stationen zu verstehen und mit den Projektleuten darüber zu reden. Gespräche, die ständig zerrissen werden, denn da kommen ja schon die nächsten Besucher. Ich muss sie nicht abfangen auf dem Gang. Sie kommen zu mir und fragen mich.
- Darf ich ein Stück Schokolade?
- Ja, aber Nase zuhalten! Oder mindestens drei Minuten lutschen!
- Hä?
Ich stelle die Stoppuhr an. Es geht los. Ich erzähle von PHASE XI, vom Projekt „34 Ernten“. Alle finden es gut. Die Besucher sind am Thema interessiert. Ganz anders als bei den großen Industriemessen, die ich sonst besuche. Toll! Ich lerne viele spannende Leute kennen. Daniel und die anderen Standbesatzungsleute nehmen neue Besucher auf, wenn ich im Gespräch bin, wir spielen uns die Bälle und schieben uns die Besucher zu. Sehr gut! Macht Spaß mit dem Team.
Mittagspause.
Ich suche richtiges Essen. Will bewusst, unserem Thema folgend, genussvoll speisen. Denke mir: Gastland Frankreich, da muss es doch ein richtiges Restaurant irgendwo geben. Gehe vorbei an Pommes- und Burgerbuden. Frage mich durch. Aha, ARD-Forum, 1. Stock. Unten redet gerade Reinhold Messner über seine Abenteuer, klingt nicht so spannend. Hunger. Weiter. Endlich oben. Kellner sprechen Französisch und mäßig Englisch. Anzüge, Krawatten, Höflichkeit. Ein Tisch mit Tischtuch! Schön, ich sitze und fühle mich wohl. Speisekarte sieht gut aus. Ich bestelle Austern als Vorspeise und dann Kabeljau. Dazu viel Wasser und wenig Entre-deux-mers. Es riecht gut, ich freue mich. Essen war leider nicht so toll. Austern irgendwie unfrisch, kein Saft, viele Krümmel im Mund, Kabeljau trocken, Kartoffelpü kalt und fade, Möhre lau und geschmacklos. Egal, ich sitze an einem Tisch mit Tischtuch und genieße zumindest das beides sehr. Lange keine bewusste Mittagspause mehr gemacht, wo Kosten und Zeit nicht die Hauptrolle spielen. Inspiriert geht’s weiter in den Nachmittag.
Viele weitere gute Gespräche. Und dann kommt ein Mädchen, dessen Namen zu erfragen ich vor lauter Verblüffung vergessen habe. Sie wartet artig, bis ich Zeit habe. Ich biete Schokolade an, sie interessiert sich für den Versuchsaufbau. Sie hat einen Rollkoffer dabei für Bücher. Sie liebt Bücher. Sie kommt seit ihrem 4. Lebensjahr auf die Buchmesse, sagt sie. Aber damals noch mit ihren Eltern. Seit sie 6 Jahre alt ist, geht sie alleine. Sie kennt sich ja aus. Jetzt ist sie 9. Sie sagt, sie liest mehr als die anderen Kinder in ihrer Klasse. Und sie braucht viele neue Bücher. Nach dem Schokoladenexperiment gibt sie sehr präzise Auskunft über ihre Geschmackseindrücke. Ich bin baff. Dann sagt sie: Das haben wir in der Schule auch schon gemacht, aber mit weißer und dunkler Schokolade, bei den Projekttagen, kannte ich schon. Ich verwickele sie in ein Gespräch über ihre Ernährungsgewohnheiten. Sie mag eigentlich alles. Gerne süß, aber nicht zu süß. Wir reden eine Viertelstunde über Essen und Lesen. Ich bin schwer beeindruckt, aber die Gesprächsführung ist etwas anstrengend. Es macht trotzdem großen Spaß.
Den ganzen Tag lang fragt übrigens niemand, warum wir auf der Buchmesse sind, obwohl wir gar keine Bücher verkaufen. Die Besucher nehmen das Thema Lebensmittel dankbar an. Es sind einige Lehrer und Erzieher dabei, die gerne unsere Ideen an ihre Schulen oder Kindergärten tragen würden, und mich fragen: Wie geht’s weiter, was kommt raus bei eurem Projekt, was kann ich nutzen? Ich weiß es nicht. Schreiben wir ein Buch? Werden die Karten als Lehrmittel in den Handel kommen?
Eine einzige Besucherin hat kein Verständnis für unser Anliegen. Sie sagt: Das mache ich doch schon alles. Sie sagt, sie ist in der Achtsamkeitsbewegung. Sie sagt, was wir anzubieten haben, kennt sie in besser bei der Rosinenmeditation. Die Achtsamkeitsjünger (säkularisierter Buddhismus!) nähern sich der Rosine mit verschlossenen Augen zuerst über den Tastsinn, dann riechen sie orthonasal daran, lecken vorsichtig, nehmen die Rosine in den Mund, lutschen etwas, kauen dann ganz langsam. Das dauert ungefähr eine halbe Stunde.
Der Tag geht vorbei wie im Raumflug. Ich hole mir einen Gin Tonic mit Gurke und setze den Diskokugelhelm auf.
Engage!