Frage: Jagd oder Beute?
Ziel: 51°47′57″N , 10°36′56″O, Brocken, Harz
Datum: 25.-26. August 2017
Aus den Reisenotizen von Jens Eike Krüger
Es erscheint wohl so, dass man gegenwärtig als junger Mitteleuropäer oder junge Mitteleuropäerin vermutlich mehr Möglichkeiten hat, sein Leben zu gestalten, als die meisten Menschen, die vor uns diesen Planeten bevölkert haben. Dabei versuchen viele sehr ambitioniert, ihr Leben individuell zu leben, dass die Suche nach dem wirklich passenden Job, Partner oder Partnerin und Lebensumfeld schon fast zur Frustration wird. In diesem Kontext stellt sich die Frage, ob man im Zug der Zufriedenheit nicht wieder eine Reduktion seiner Ziele vornehmen sollte. Zum Beispiel wie Sisyphos jeden Tag einen Stein den Berg hinauf zu rollen.
„Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen“, hieß es in Albert Camus´ „Der Mythos des Sisyphos“.
Für meine vierte Mission wollte ich jemanden finden, der genau diesen Mythos empirisch überprüft. Benno Schmidt, alias Brocken-Benno, läuft seit vielen Jahren fast jeden Tag den Brocken, den höchsten Berg Norddeutschlands, rauf und runter. Auf seiner Internetseite heißt es, man brauche keinen Termin mit ihm vereinbaren, da man ihn eh am Brocken findet.
Also habe ich versucht, ihn zu finden. Oder besser: zu jagen. Wobei der Weg auf den Brocken selber schon eine Geschichte ist, die es zu erzählen gilt. „Die Jagt ist wichtiger als die Beute“, heißt es bei HP Baxter...
Freitagabend, 25. August 2017
Nach einer Besprechung in Hannover erreiche ich abends Wernigerode. Der Brocken-Benno gibt an, fast jeden Tag zwischen 11 und 12 auf dem Brocken zu sein. Wie ich aus zahllosen Reinhold-Messner-Dokumentationen weiß, ist ein gutes Basiscamp das A und O für die Besteigung eines Gipfels. Meines ist eine originale Harzer Familienpension.
In einer Gasse finde ich die Herberge. Die Tür ist zu. Ich klingle. Es dauert zwei Minuten. Dann erscheint eine Frau mit weißen Haaren in weißer Robe. Ich bekomme meine Stube zugewiesen.
Ich will den Scherz machen „Nach WLan brauche ich hier gar nicht erst fragen“, als ich einchecke. Vergesse das aber. Ist auch besser. Auf meiner Stube hängen alle wichtigen Infos aus: Telefonnummern, Frühstückszeit, WLan-Passwort.
Zunächst das Wetter für den Aufstieg checken. Ich habe meine Wanderstiefel gerade noch eingecremt und geölt, da trifft mich der Schock: Am Morgen Gewitter, gefolgt von Gewitter und danach - Gewitter. Ich hab doch extra immer Teller leer gegessen und jetz das. „Der Brocken ist dann sicher gesperrt“, denke ich. Soll ich trotzdem den Aufstieg versuchen? Ich sehe schon die Schlagzeile „Spaziergangsprofi amateurhaft von Blitz erschlagen“. Das wäre nicht gut. Ok – erstmal schlafen. Morgen sehen wir weiter. Die Touristeninforation kann mir sicher sagen, ob sich ein Aufstieg realisieren lässt.
Samstagmorgen, 26. August
Ich bin um sieben wach. Um acht schaufele ich mir das Frühstück rein. Die Uhr läuft: Auf den Brocken brauche ich sicher drei Stunden Fußweg. Es ist jetzt eigentlich schon knapp. Also schnell zur Touristeninformation, Wetterlage klären, dann los. Um neun stehe ich vor der Touristeninfo. Die macht um zehn auf. Das wäre Brocken-Benno T -2 Stunden. Das ist zu knapp. Ich bin ja keine Gazelle oder ein Yeti. Einzige Chance: Zum Bahnhof, dort die Schmalspurbahn auf den Brocken nehmen und hoffen, dass Benno dort ist. Ich laufe zum Bahnhof. Ich sehe schon von weitem weißen Rauch aufsteigen. Nein – kein neuer Papst, aber eine neue Chance. Zum Glück habe ich den Plan für die Bahn von der lieben Herbergsmutter zugesteckt bekommen. Es ist 9.30 Uhr. Die Bahn fährt um 9.40 Uhr. Zum Bahnhof hetzten. Wo kauft man ein Ticket für diesen Zug? Sicher nicht am DB-Schalter. 9.35 Uhr – verdammt! Dann sehe ich den Ticketverkauft. Ich presche rein. 9.37 Uhr. „Was kostet ein Ticket für die Auffahrt?“ Es sind 27 Euro. Bitte was?!? Aber naja – es ist ja auch eine Kohlebahn und so weiter... In meinem Portemonnaie sind ungelogen 27,40 Euro und ein paar Plektren. Geld auf den Schalter, Ticket nehmen, zur Bahn rennen, Beweisbild machen, einsteigen, hinsetzten. Eine Minute später fährt die Bahn ab. Durchatmen.
Eine Stunde dreißig dauert die Fahrt. Mit viel Rumps und Herz heizen uns die beiden Heizer Richtung Brocken-Benno. Wenn er dann auch da ist. Ich habe kein Geld mehr und fahre auf einen Berg, auf dem es vermutlich gewittern wird und der Abstieg drei Stunden dauert. Der Proviant ist natürlich auch spärlich. Wenn dieses Treffen klappt , ist das Ende von „Schlaflos in Seattle“ ein Kindergeburtstag zu dem Mutter Einladungen in Comic Sans gestaltet hat.
Die Bahn brettert durch einen der urigsten Wälder, die ich je gesehen habe. Ich fahre ungefähr durch jedes Gemälde, dass in meiner favorisierten Flohmarkthalle in Bochum hängt.
Mit dem Mobilitätslab wollen wir ja nicht nur zur physischen Fortbewegung forschen, sondern vor allem versuchen, eine geistige Reise außerhalb der Filterblase zu unternehmen. Jetzt bin ich mit einem Rudel-Harztourist*innen in einer Kohlebahn. Die Bahn hält auf offener Strecke.
„Wir sind in einen Stau geraten!“ prustet eine Frau mit Prosecco in der Hand. Die Stimmung im Wagon ist ausgezeichnet. Auf der offenen Plattform zwischen den Wagons ist die Reise noch besser. Brocken und Bäume rauschen vorbei. Die 40 KmH, die die Bahn vielleicht fährt, fühlen sich an wie 180. Ich fasse in meine Haare und finde kleine schwarze Körner. Hab ich mich nicht gewaschen? Ich zerdrücke sie: Es ist Kohle. Kohle, die ich mit meinem Kopf im vierten Wagon hinter der Bahn einfange. Fantastisch. Kohlepartikel – der Sand der Harzgebirges.
Es ist kurz nach elf als ich den Gipfel des Brockens erreiche. Ich haste nach oben. Schaue. Bange.
Radfahrer*innen und Wanderer*innen noch und nöcher.
Brocken-Benno: Fehlanzeige.
Auf einem Zaunpfahl komme ich zur Rast. Ohne Plan, ohne Geld, ohne Benno.
Wir haben im Mobilautenteam vorher darüber gesprochen, dass die Mission natürlich scheitern könnte. Und was dann passiert. Ich lege mir die Sätze zurecht, wie ich gut erklären kann, wie Jens Eike Krüger als Hitman gescheitert ist. Starre in die Leere. Eine Menschentraube passiert mich. In ihr, ein Mann mit großer Brille und langem Wanderstock, der in alle Richtungen geschwenkt wird. Also der Stock – nicht der Mann.
Benno.
Fotos habe ich von ihm gesehen und Videos. Es läuft mir kalt den Rücken runter.
Er erklärt seiner Wandertruppe etwas. Dann verschwinden alle zusammen in einem Gebäude. Benno führt sie an und spricht energisch. Da will ich nicht stören. Aber ich muss, wenn ich mit ihm sprechen will. Nachher steigen sie ab und alles war für die Katz. Wie bleibe ich höflich und dennoch bestimmt und verwickele ihn in ein Gespräch? Bei sowas war ich immer schlecht.
Doch plötzlich läuft der Brocken-Benno alleine über das Plateau.
„Hallo lieber Brocken-Benno!“ rufe ich.
Unsere Blicke treffen sich.
„Ach du bist´s!“ ruft Brocken-Benno zurück. „Schön dich wieder hier zu sehen. Wo kommst du nochmal her?“
Ich schwöre auf meine Mutter, dass ich noch nie im Harz war. Nicht in den letzten 15 Jahren.
Über unser Gespräch möchte ich, genau wie damals über die Fahrt mit dem Paternoster, im Weiteren schweigen. Ein Austausch von einem, der schon viel gelaufen ist und einem, der noch viel zu laufen hat. Aber den Brocken-Benno muss schon jeder und jede für sich selber jagen. Dass die Jagt wichtiger ist als die Beute, würde ich nicht unbedingt sagen: aber sie ist auch wichtig.
„The chase is better than the catch“. Oh, HP Baxter – du alter Poet...