TEILE DEIN ESSEN
MIT EINEM FREMDEN
"Ein Werk aus dem Jahr 2016 mit dem Titel „Daytime Task“. Der Künstler stellt dem Betrachter zehn Aufgaben, die zu den ungewöhnlichsten Interaktionen auffordern. „Teile dein Essen mit einem Fremden.“ Wer macht denn sowas? Einfach so? Wie viele Leute wohl schon eine von Koki Tanakas Aufgaben erfüllt haben? Ob es wohl jemanden gibt, der alle geschafft hat? An einem Tag?
Dieses Werk verlangt dem Betrachter einiges ab. Denn mit dem bloßen Betrachten ist es nicht getan. Der Rezipient soll offenbar aktiv werden. Und damit überträgt der Künstler uns allen nicht nur die zehn überraschenden Aufgaben auf der Tafel, sondern nimmt uns auch noch in die Pflicht, aktiv am Gelingen des Kunstwerks mitzuarbeiten. Die Tafel ist nur ein Teil des Werks. Die vom Künstler gewollte Verhaltensänderung und Interaktion und alle damit verbundenen inneren Vorgänge wie sich selbst motivieren, Ängste überwinden, abwägen, zweifeln, entscheiden sind der entscheidende Part: Die Rolle des aktiven Rezipienten.
Möglicherweise ist die Verantwortung des Rezipienten für das Gelingen des künstlerischen Akts auch gar nicht so groß wie sie zunächst zu sein scheint. Vielleicht reicht es auch schon, wenn man sich mit den Aufgaben auseinandersetzt, die der Künstler uns gestellt hat, ohne sie in die Tat umzusetzen. Bereits das Durchspielen eines der Szenarien im Kopf verändert etwas in mir, indem ich mich damit beschäftige. Es verändert möglicherweise auch mein zukünftiges Verhalten in der Interaktion mit anderen. Einfach nur, weil ich den künstlerischen Eingriff in mein Leben in der Fantasie zulasse: WAS WÄRE, WENN? Denn das Nachdenken lenkt meine Aufmerksamkeit auf Fragen, die ich mir im Alltag normalerweise nicht stelle. Fragen nach dem Zusammenleben mit anderen Menschen. Wie kann oder soll das gestaltet werden? Wie will ich mit anderen umgehen? Was bin ich bereit, in der sozialen Interaktion zu riskieren?
So oder so: dieses Kunstwerk fordert den Rezipienten mit seinem Denken, Fühlen und Handeln in ganz besonderer Weise. Die künstlerische Intervention nimmt Einfluss auf das Leben des Rezipienten weit über die eigentliche Rezeptionssituation hinaus. Das Kunstwerk ist auf die Aktion des Rezipienten angewiesen. Gleichzeitig hat der Künstler keine Kontrolle darüber, wie der Rezipient sich zu den Aufgaben verhalten wird. Das Ergebnis ist völlig offen.
Warum mich diese künstlerische Arbeit so beschäftigt? Weil wir im food lab Kompetenzteam gerade ganz ähnliche Fragestellungen bearbeiten: Wie kann ein künstlerischer Ansatz aussehen, der Ernährungsperspektiven für die Zukunft aufzeigt?
Unser Ausgangspunkt:
Wir stellen den Konsumenten in den Mittelpunkt, so wie der Künstler den Rezipienten. Wir schreiben ihm eine aktive Rolle zu, wollen seine sensorische Kompetenz fördern. Wir schreiben nichts vor, sondern regen an zur aktiven Auseinandersetzung mit dem Thema.
Der Weg dahin:
Zunächst müssen wir eine Situation schaffen, in der der Konsument sich bewusst, frei und selbstbestimmt mit dem Thema beschäftigen kann. Das Projekt „Mittagstisch“, das wir bereits an anderer Stelle vorgestellt haben, bietet dafür eine gute Plattform. In einem weiteren Schritt wollen wir mit kleinen Aufgaben die Situation verfremden oder zuspitzen, um eine bewusste Auseinandersetzung mit der eigenen Sensorik zu ermöglichen.
Die Entwicklung vom Konsumenten zum Pro-sumenten kann nur über eigene Erfahrungen laufen. Wir wollen für kleine Aha-Erlebnisse sorgen, die zu einem bewussteren Konsumieren, im Idealfall sogar Genießen, und schließlich zu mehr Wertschätzung für Lebensmittel führen. Diese Erfahrungen kann jeder nur selbst machen, aber nicht (nur) alleine. Die soziale Interaktion in der Gruppe ist ein entscheidender Katalysator. Essen und Genießen in Gemeinschaft ist einerseits der Kitt, der Gesellschaften zusammenhält, andererseits das wundervolle Erlebnis, ganz bei sich selbst zu sein: ökonomisch unproduktiv, geistig angeregt und offen für Interaktion. Insofern ist es bestimmt kein Zufall, dass Koki Tanakas erste Aufgabe das Thema Essen aufgreift und damit direkt ins Herz trifft:
„Share your food with a total stranger.“