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"Darf ich ein Stück Schokolade? - Ja, aber Nase zuhalten! Oder mindestens drei Minuten lutschen! "

"Darf ich ein Stück Schokolade? - Ja, aber Nase zuhalten! Oder mindestens drei Minuten lutschen! "

Das Münsteraner Kompetenzteam auf der Frankfurter Buchmesse. 

Diesmal sind unsere Mitglieder auf die Tage verteilt dort vertreten und dabei macht jeder seine ganz eigenen Erfahrungen. 

Philipp Overberg schildert hier seinen persönlichen Eindruck von der Begegnung mit der Messe und der ersten öffentlichen Präsentation unseres Projektes:

Der BEGINN...

Nach einer turbulenten Bahnfahrt mit sehr vielen Nonnen und einem lautstarken Shantychor raus aus dem Bahnhof, Ticketcodes, Security-Check, Hallen-Shuttle, Halle 4, Treppe rauf, vorbei an Porsche-Oldsmobile, Gin-Tonic-Bar und dann:

 N99. Unser Stand, ein offensichtliches Provisorium aus mobilen Kisten. Ich sage den Damen am Stand guten Tag, baue Stoppuhr, Stifte, Schokolade und Karten auf. Brauche ich ein Tablet für unsere Präsentation? Im Laufe des Tages zeigt sich: Niemand will eine Präsentation oder einen Film sehen. Die Besucher wollen mit mir reden. Ganz analog. Sehr gerne!

Es gibt einen Arbeitsplatz mit multimedialen Präsentationen aller Projekte. Sieht lustig aus. Raumschiff Orion. Knopf drücken, Kopfhörer auf, Film geht los. Aber viel genutzt wird diese Station nicht. Das persönliche Gespräch ist und bleibt attraktiver.

Es kommen einige Besucher. Mir ist keine Sekunde langweilig. Die wenigen Momente, in denen ich nicht mit Besuchern spreche, versuche ich, die anderen Stationen zu verstehen und mit den Projektleuten darüber zu reden. Gespräche, die ständig zerrissen werden, denn da kommen ja schon die nächsten Besucher. Ich muss sie nicht abfangen auf dem Gang. Sie kommen zu mir und fragen mich.

- Darf ich ein Stück Schokolade?

- Ja, aber Nase zuhalten! Oder mindestens drei Minuten lutschen!

- Hä?

Ich stelle die Stoppuhr an. Es geht los. Ich erzähle von PHASE XI, vom Projekt „34 Ernten“. Alle finden es gut. Die Besucher sind am Thema interessiert. Ganz anders als bei den großen Industriemessen, die ich sonst besuche. Toll! Ich lerne viele spannende Leute kennen. Daniel und die anderen Standbesatzungsleute nehmen neue Besucher auf, wenn ich im Gespräch bin, wir spielen uns die Bälle und schieben uns die Besucher zu. Sehr gut! Macht Spaß mit dem Team.

Mittagspause

Ich suche richtiges Essen. Will bewusst, unserem Thema folgend, genussvoll speisen. Denke mir: Gastland Frankreich, da muss es doch ein richtiges Restaurant irgendwo geben. Gehe vorbei an Pommes- und Burgerbuden. Frage mich durch. Aha, ARD-Forum, 1. Stock. Unten redet gerade Reinhold Messner über seine Abenteuer, klingt nicht so spannend. Hunger. Weiter. Endlich oben. Kellner sprechen Französisch und mäßig Englisch. Anzüge, Krawatten, Höflichkeit. Ein Tisch mit Tischtuch! Schön, ich sitze und fühle mich wohl. Speisekarte sieht gut aus. Ich bestelle Austern als Vorspeise und dann Kabeljau. Dazu viel Wasser und wenig Entre-deux-mers. Es riecht gut, ich freue mich. Essen war leider nicht so toll. Austern irgendwie unfrisch, kein Saft, viele Krümmel im Mund, Kabeljau trocken, Kartoffelpü kalt und fade, Möhre lau und geschmacklos. Egal, ich sitze an einem Tisch mit Tischtuch und genieße zumindest das beides sehr. Lange keine bewusste Mittagspause mehr gemacht, wo Kosten und Zeit nicht die Hauptrolle spielen. Inspiriert geht’s weiter in den Nachmittag.

Viele weitere gute Gespräche. Und dann kommt ein Mädchen, dessen Namen zu erfragen ich vor lauter Verblüffung vergessen habe. Sie wartet artig, bis ich Zeit habe. Ich biete Schokolade an, sie interessiert sich für den Versuchsaufbau. Sie hat einen Rollkoffer dabei für Bücher. Sie liebt Bücher. Sie kommt seit ihrem 4. Lebensjahr auf die Buchmesse, sagt sie. Aber damals noch mit ihren Eltern. Seit sie 6 Jahre alt ist, geht sie alleine. Sie kennt sich ja aus. Jetzt ist sie 9. Sie sagt, sie liest mehr als die anderen Kinder in ihrer Klasse. Und sie braucht viele neue Bücher. Nach dem Schokoladenexperiment gibt sie sehr präzise Auskunft über ihre Geschmackseindrücke. Ich bin baff. Dann sagt sie: Das haben wir in der Schule auch schon gemacht, aber mit weißer und dunkler Schokolade, bei den Projekttagen, kannte ich schon. Ich verwickele sie in ein Gespräch über ihre Ernährungsgewohnheiten. Sie mag eigentlich alles. Gerne süß, aber nicht zu süß. Wir reden eine Viertelstunde über Essen und Lesen. Ich bin schwer beeindruckt, aber die Gesprächsführung ist etwas anstrengend. Es macht trotzdem großen Spaß.

Den ganzen Tag lang fragt übrigens niemand, warum wir auf der Buchmesse sind, obwohl wir gar keine Bücher verkaufen. Die Besucher nehmen das Thema Lebensmittel dankbar an. Es sind einige Lehrer und Erzieher dabei, die gerne unsere Ideen an ihre Schulen oder Kindergärten tragen würden, und mich fragen: Wie geht’s weiter, was kommt raus bei eurem Projekt, was kann ich nutzen? Ich weiß es nicht. Schreiben wir ein Buch? Werden die Karten als Lehrmittel in den Handel kommen?

 Eine einzige Besucherin hat kein Verständnis für unser Anliegen. Sie sagt: Das mache ich doch schon alles. Sie sagt, sie ist in der Achtsamkeitsbewegung. Sie sagt, was wir anzubieten haben, kennt sie in besser bei der Rosinenmeditation. Die Achtsamkeitsjünger (säkularisierter Buddhismus!) nähern sich der Rosine mit verschlossenen Augen zuerst über den Tastsinn, dann riechen sie orthonasal daran, lecken vorsichtig, nehmen die Rosine in den Mund, lutschen etwas, kauen dann ganz langsam. Das dauert ungefähr eine halbe Stunde.

Der Tag geht vorbei wie im Raumflug. Ich hole mir einen Gin Tonic mit Gurke und setze den Diskokugelhelm auf. 


Engage!

 

 


„Wie politisch sind unsere Einkäufe?“

„Wie politisch sind unsere Einkäufe?“

Lassen Sie uns darüber reden!

Über einhundert mal durften wir in Hassloch Menschen unseren Testmarkt der Zukunft erleben lassen. Auch der SWR war vor Ort und hat berichtet. 

http://swrmediathek.de/player.htm?show=67008cc0-9fd1-11e7-a5ff-005056a12b4c

Aktuell steht der Testmarkt auf der Buchmesse in Frankfurt und in den nächsten Wochen noch an fünf weiteren Orten in ganz Deutschland. Eins merken wir dabei immer wieder: es besteht Bedarf zum Reden.

Die aufkommenden Fragen sind vielfältig, einige aber wiederkehrend:

- Geht das wirklich alles schon heute?

- Welche Chancen liegen darin, welche Risiken sind zu befürchten?

- Mit wem kann ich mich über dieses Thema austauschen, jetzt wo es mir bewusst geworden ist?

Es scheint, dass wir unser Ziel erreicht haben:

Ein Erlebnis zu schaffen, dass anregt und zum Weiterdenken animiert. Obwohl die PhaseXI als Projekt zeitlich begrenzt ist, möchten wir Ihnen die Option geben mit uns und anderen im Austausch zu bleiben. Oder sie möchten den Testmarkt der Zukunft zu sich holen, um bei Ihnen Digitalisierung von Konsumverhalten erlebbar zu machen? Vielleicht haben Sie auch Lust mit uns eine öffentliche Diskussion über Moral und Ethik von Unternehmen zu führen. Wir haben da so manche Idee.

Was auch immer es ist, schreiben Sie uns einfach – wir freuen uns auf den Austausch und halten Sie in Folge gern auf dem Laufenden, wohin es den Testmarkt der Zukunft ziehen wird:

testmarkt@produktfarm.de

Ein*e Held*in kommt selten allein

Ein*e Held*in kommt selten allein

Am Tag, als die Kulturwelt sich gleich mehrmals wandelte, neue Denkweisen und Inszenierungen das Licht der Welt erblickten und Unterhaltung eine neue Bedeutung zugeschrieben wurde, an jenem Tag setzte auch die Renaissance des bürokratischen Heldentums ein.

Wir schreiben den 06. Oktober. Ein Datum, was sich für eine Musikwissenschaftlerin wie mich nach zwei Jahren Musikgeschichte uneingeschränkt festgesetzt hat:

  • 1600: Die erste vollständig erhaltene Oper der Musikgeschichte, Peris “Favola in Musica”, wird uraufgeführt.

  • 1889: In Paris eröffnet das “Moulin Rouge”, heute eines der berühmtesten Varietétheater der Welt.

  • 1927: In New York wird der erste abendfüllende Tonfilm der Geschichte vorgeführt.

Weltverändernd? Ja, schon. Vielleicht nicht unmittelbar und direkt spürbar, aber ja. Ungewohntes wagend? Ja. Neue Denkweisen etablierend? Ja. Genau so geht es mir und meinen Kolleg*innen aus dem AMT FÜR UNLÖSBARE AUFGABEN auch heute. Es ist der 06. Oktober 2017. Und wir stellen die steile These auf: Wir verändern den Blick auf die Bürokratie heute ähnlich dramaturgisch. Wir leiten das Heldenzeitalter der Bürokratie ein.

Wir gehen es von unten an. Wir suchen Heldengeschichten aus der Basis. Und eben jene Geschichten möchten wir erzählen. Wir möchten sie sichtbar machen, als Leuchttürme aufstellen und ihnen jene Ehre gebühren, die sie verdient haben. Wir verkünden die Vergabe des AWARDs FÜR BÜROKRATISCHES HELDENTUM. Wir ermutigen zu einer neuen Sicht auf die Bürokratie und auf diejenigen, die sich für diese einsetzen. Wir setzen ein Zeichen für MITEINANDER, für GEGENSEITIGE UNTERSTÜTZUNG und KOOPERATION. Zwischen Kolleg*innen, zwischen Ämtern und Bürger*innen und für eine offene und partizipative Demokratie. In der offiziellen Presseerklärung heißt es:

“Das AMT FÜR UNLÖSBARE AUFGABEN dankt mit diesem jährlich zu vergebenen Preis Mitarbeitenden in der Verwaltung sich kreativ an Problemlösungen zu probieren. Gleichzeitig wird damit bundesweit auf kleine Taten aufmerksam gemacht, die die Beziehung zwischen Verwaltung und Bürgerinnen und Bürgern stärken und als Gemeinschaft darstellen.” Damit unterstreicht das neu gegründete AMT FÜR UNLÖSBARE AUFGABEN die Bedeutung von Motivation und gegenseitiger Wertschätzung.

Der erste AWARD FÜR BÜROKRATISCHES HELDENTUM geht an die Stadt Heidelberg. Sie wird für ihr Engagement und die Bereitschaft gewürdigt, sich kritisch von einer Zukunftsbehörde, dem AMT FÜR UNLÖSBARE AUFGABEN, evaluieren zu lassen. Sie wird belohnt für ihren Mut neue Denkweisen zuzulassen, ihre Flexibilität unbürokratisch ein Praktikum zu vermitteln, geschützte Räume zu öffnen und Mitarbeitende kreativ einzubinden und ihr bürokratisches Querdenken.

22h48min – Eine Pionierfahrt auf den Spuren des Stillstands

22h48min – Eine Pionierfahrt auf den Spuren des Stillstands

Pionierfahrt: Mobilaut Norbert Krause parkt und bleibt sitzen. 22 Stunden und 48 Minuten lang.

Frage: Und dann?

Ort: 50°56'N, 6°55'O, Venloer Straße, Köln

Datum: 22. September 2017, 14:08 Uhr

Er läuft und läuft und läuft… So erzählt es uns ein Werbespot aus den 60er Jahren über den VW-Käfer. Aber dies ist nur ein Teil der Wahrheit. Hauptsächlich steht er nämlich, ebenso wie alle anderen Autos in Deutschland. Im Schnitt 22 Stunden und 48 Minuten pro Tag. Und hierbei verbraucht das „Fahrzeug“, ganz egal ob Benziner, Diesel oder Elektroauto vor allem eins: Platz. 

Vielleicht ist es an der Zeit sich dieser immensen Zeitspanne zu stellen, nicht den Wagen zu parken um sich im Anschluss den alltäglichen Dinge zu widmen, sondern sitzen zu bleiben und so zu erfahren oder vielmehr zu ersitzen, wie wenig wir unser oft teuerstes Gut nutzen. 

Freitag um 14:08 Uhr, mit achtminütiger Verspätung geht es los. Ich ziehe das erste Parkticket. Die eingeworfenen sechs Euro (Maximalbetrag) erlauben es mir, drei Stunden zu parken. Im Vergleich zu meiner Heimatstadt Mönchengladbach ist das schon ein ordentlicher Preis. Im Vergleich zu jeder Niederländischen (Klein-)Stadt ein Witz. Ab 18 Uhr ist es dann eh vorbei mit dem Bezahlen. Abends parkt man gratis. 

In meinem Wagen bin ich jenseits der sanitären Versorgung, die ich an den auf gleicher Höhe befindlichen Imbiss delegiert habe, autark. Ich habe genug zu trinken und zu essen, ein Notizheft, akkubetriebene Lampen und eine Winterjacke für die Nacht dabei. Und natürlich ein Telefon mit Ersatzakku. 

Ich hätte mit Rückenschmerzen, eingeschlafenen Fußen oder ähnlichen körperlichen Unbehaglichkeiten gerechnet. Aber stattdessen schlägt schon nach wenigen Minuten die Langeweile zu. Der Kontrast zwischen einer vollen Arbeitswoche und der Aussicht auf die nächsten wohl sehr langsam vergehenden 23 Stunden ist hoch. Vielleicht zu hoch. Ich schaue immer wieder auf die Uhr, subtrahiere die vergangene Zeit von der Dauer der Pionierfahrt und lande immer wieder bei ernüchternd langen Zeitspannen. Nach einer Stunde kommt dann endlich mein Geist an. Ich beginne die Zeit im Wagen zu genießen. Es zu genießen, einfach da zu sitzen und das Treiben um mich herum zu beobachten. Später kommt ein junges Pärchen vorbei. Sie haben einen großen Fernseher gekauft und schieben ihn auf einem Kickboard zu seinem neuen Bestimmungsort. Ab Ehrenfeld geht es mit der S-Bahn weiter ans andere Ende von Köln. Anderthalb Stunden brauchen sie für die gesamte Strecke, sagen sie mir. Aber das wäre kein Problem. Sie hätten eine gute Zeit und rumsitzen würden sie dank des neuen TVs eh noch genug. Zu dem Zeitpunkt sitzen wir zu viert im Wagen. Warum definieren wir oft die Dauer einer Reise als verlorene Zeit? Warum haben wir das Gefühl möglichst schnell von A nach B gelangen zu müssen? Auf Google-Maps kann man die Verkehrsmittel gegeneinander antreten lassen. Mönchengladbach – Köln: 56 Minuten mit dem Auto, 51 Minuten mit dem Zug, 154 Minuten mit dem Fahrrad, 546 Minuten zu Fuß. Verliere ich 58 Minuten mit dem Fahrrad gegenüber dem Auto, oder gewinne ich am Ende ein Extra an Lebenszeit und spare mir gleichzeitig die einstündige Laufrunde? Gewinne ich mit dem Zug nicht nur vier Minuten, sondern kann sogar früher Feierabend machen, da ich nicht noch ein Auto von meinem Gehalt finanzieren muss? Wie wohl der Mobilitätsalgorithmus aussähe, käme es ihm nicht lediglich darauf an, eine Distanz zu überwinden sondern uns ein gute Leben zu bereiten? 

Sehr viele Stunden später werde ich gefragt, ob ich nicht das Gefühl hätte, meine Zeit zu verschwenden. Eigentlich nicht, antworte ich und sitze weiter bis zum Ende meiner Reise. 

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